«Startseite»   «Manga»   «FanArts»   «FanFics»   «Rezepte»
«Steckbrief»   «Nice To Know»   «Gästebuch»   «Impressum»

Shuichi’s Schatzkästchen

~ FanFictions ~

„Guardians” Teil I

Copyright: Diese Geschichte ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind untersagt.
© 2005 - Shuichi Shindou / Sabrina Winterberg - Schweiz / Suisse / Svizzera / Svizra / Switzerland.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Es war ein wundervoller warmer Herbstnachmittag. Die Sonne schien vom Himmel und liess die Blätter der Bäume, welche die Strassen säumten, in den prachtvollsten Farben schimmern.
  Eine leichte Brise wehte durch die Bäume und raschelte sanft in den Zweigen. Der Wind löste einige Blätter aus dem Geäst und liess sie durch die Luft wirbeln. Die Blätter drehten und wendeten sich, flogen auf und nieder. Zwischen den roten und gelben Blättern, tanzte eine einzelne, schwarze Feder durch die Luft. Diese wirbelt zwischen den Blättern im Wind einher und landete im Haar eines Jungen, der gerade die Allee entlang kam. Der Name dieses Jungen war Yu. Yu blieb stehen und zog die Feder aus seinem Haar. Er drehte sie in seinen Händen. Sie gefiel ihm. Sie hatte eine schöne Form. Er sah auf, die Sonne blendete ihn. Er lächelte und ging weiter.
  Yu war ein etwas ungewöhnlicher Junge. Er war siebzehn und für sein Alter ziemlich klein.
  Sein Haar war Schwarz wie die Nacht und wild zerzaust. Seine Augen boten einen ungewöhnlichen Kontrast zu seinem Haar. Seine Augen waren nämlich blau. Kein Blaugrau wie bei den meisten Menschen. Seine Augen waren von einem so hellen Blau, dass sie wie Eis wirkten.
  Yu war ein Weisenkind. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen als er erst ein Jahr alt gewesen war. Seit dem lebte er beim besten Freund seiner Eltern. Denn er hatte keine Familie. Yu wusste nichts über seine Eltern oder ob es noch jemanden gab mit dem er verwandt war. Es gab nur etwas, was ihn mit seiner Vergangenheit zu verbinden schien. Seinen Talisman. Es war ein Anhänger in Form einer Feder, die er an einer Kette um den Hals trug. Diesen Anhänger hatte er schon solange er denken konnte. Er wusste nicht von wo er ihn hatte oder von wem. Aber er hütete ihn wie einen wertvollen Schatz.

Endlich hatte Yu sein Ziel erreicht. Das Krankenhaus. Ken, der Freund seiner Eltern bei dem er lebte, war seit einigen Monaten schwerkrank. Yu besuchte ihn fast jeden Tag nach der Schule.
  „Hallo, ich bin da. Na wie geht es dir heute?”, rief Yu als er durch die Tür getreten war.
  „Hallo Yu”, antwortete Ken. „Es geht schon etwas besser. Und was ist mit dir?”
  „Och, ganz gut. Ich hab ne Mathearbeit verhauen und morgen steht ein Geschichtstest an. Von meinem Grammatiklehrer hab ich heute nen Anschiss gekriegt und im Sport bin ich in die Hürden gekracht. Es war also nichts ungewöhnliches.” Yu lachte.
  Ken lacht ebenfalls. „Ja ja. So kenn ich dich.”
  Sie redeten eine Weile. Als es dann draussen langsam dunkel wurde, stand Yu auf und streckte sich. „Ich muss jetzt los.”, sagte er. Yu streckte seine Hand in die Jackentasche und zog die Feder hervor, welche ihm auf der Strasse zugeflogen war. Er legte sie auf den Nachttisch neben dem Krankenbett und sagte: „Werd bald wieder gesund. Du fehlst mir. Es ist so still ohne dich in unserer Wohnung und du weisst ich bin nicht gern allein.”
  Ken strich Yu mit der Hand über die Wange.
  „Keine Angst, ich lass dich nicht allein.”

In den nächsten Wochen hatte Yu kaum Zeit um Ken zu besuchen. Er hatte viel um die Ohren mit der Schule. Nebenbei hatte er einen Job in einem kleinen Lebensmittelgeschäft ganz in der Nähe, um sich etwas dazuzuverdienen. Jetzt wo Ken schon so lange im Krankenhaus war, musste Yu wohl oder übel für sich selbst sorgen. Wenn die Schule aus war, musste er gleich anschliessend zur Arbeit. Die dauerte oft bis in den Abend hinein. Danach machte er noch Schularbeiten, sofern ihm das möglich war. Abends war er so müde, dass er meist noch mit seinen ganzen Klamotten auf dem Sofa einschlief. Am anderen Morgen war er dann so müde, dass er manchmal sogar im Unterricht einnickte. Ihm tat alles weh und er war hoffnungslos übermüdet. Zu allem übel schien sich Kens Zustand auch noch immer mehr zu verschlimmern. Mittlerweile hatten sie ihn auf die Intensivstation verlegen müssen.
  An diesem Abend war Yu total fertig. Er hatte einen langen Tag hinter sich. Er hatte schon wieder eine Arbeit verhauen und die Lehrer hatten ihn deswegen solange in Beschlag genommen, dass er danach zuspäht zur Arbeit kam. Es war ein Wunder, dass er es danach noch bis nach hause geschafft hatte ohne einzuschlafen.
  Er war aufs Sofa gesunken und schon fast eingeschlafen, als plötzlich das Telefon klingelte.
  Am Telefon war der Arzt aus dem Krankenhaus. Yu nahm kaum war ,dass jemand mit ihm sprach. Aber dann war er mit einem Schlag hellwach. Der Arzt hatte Ihm gerade gesagt, dass Ken gerade eben gestorben sei.
  Nachdem der Arzt aufgelegt hatte, wollte Yu den Hörer wieder aufhängen. Doch der Hörer fiel ihm aus der zitternden Hand. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er konnte es nicht glauben. Ken, der einzige Mensch, der sich je um ihn gekümmert hatte, war tot. Er war einfach so weg und hatte ihn allein gelassen. Er konnte nicht mehr. Der Stress der ganzen letzten Tage entlud sich. Er umklammerte seinen Talisman und brach weinend auf dem Boden zusammen.

Die Beerdigung fand schon ein paar Tage später statt. Es waren nicht viele Leute gekommen. Nur Kens engste Freunde und ein paar Arbeitskollegen. Ein paar von Kens ehemaligen Klienten, er war Anwalt gewesen, waren auch gekommen. Familie hatte er keine.
  Die Leute waren alle ganz still. Einige schluchzten und einige starrten nur stumm vor sich hin. Aber keiner kümmerte sich um den Jungen, der einsam und verlassen an Kens Grab stand.
  Yu war völlig weggetreten und starrte nur ins leere. Er war vom Regen schon total durchnässt. Er zitterte aber er schien es nicht zu bemerken.
  Die Predigt tröstete ihn kein bisschen. Die Stimmen der Menschen waren irgendwie weit entfernt. Er dachte an die Zeit mit Ken zurück. All die schönen Erinnerungen, all das Lachen. Das alles schien ihm schon Jahre her zu sein. Yus Gesicht war tränenüberströmt. Er konnte nicht glauben, dass Ken einfach so gegangen war. Nun war er ganz allein auf der Welt. Er hatte niemanden mehr. Was sollte er jetzt tun? So ganz allein.
  Selbst nachdem die Trauergäste längst gegangen waren, blieb Yu noch lange auf dem Friedhof. Er wusste ja nicht wohin. Es war bereits Nacht. Es hatte aufgehört zu regnen. Plötzlich durchbrach ein Geräusch die Stille. Schritte die durch den Gehweg voller Pfützen auf ihn zukamen.
  Yu sah auf. Vor ihm stand ein Mann im schwarzen Anzug. Er hatte feuerrote Haare und in seinem Blick lag etwas Stolzes und Erhabenes. Wie ein Krieger. Er sah Yu mit einem prüfenden Blick an. Sein Blick schien Yu festzunageln und in ihn ein zu dringen.Yu war es unheimlich. Ihm war als wolle der Mann seine Gedanken lesen. Der Mann wandte sich von Yu ab und wollte gehen. Yu hatte ein seltsames Gefühl.
  „Warten Sie.”, rief Yu plötzlich. Er wusste selbst nicht warum.
  Der Mann blieb stehen und drehte sich zu Yu um. Seine Augen Funkelten nun, als wenn ein Feuer in ihnen entfacht worden wäre, er verzog aber keine Miene.
  „Wer sind Sie?”, fragte Yu mit leicht zittriger Stimme. „Sind Sie ein Freund von Ken?”
  „Wie heisst du?”, fragte ihn der Mann. Seine Stimme klang warm und liess ihn gleichzeitig erzittern.
  „Ich?...Mein Name ist Yu.”
  „Yu? Ein ungewöhnlicher Name, nicht?”
  „Yu ist das chinesische Wort für ′Feder′”
  Yu schwieg und sah den Mann unverwandt an. Noch immer liefen ihm Tränen übers Gesicht.
  „Und wer sind Sie?”, sagte Yu nun etwas entschlossner.
  „Ich bin Ri.”, antwortete er knapp.
  „Ri, das ist doch das chinesische Wort für ′Sonne′ oder?”, fragte Yu.
  Ri gab keine Antwort. Er blickte an Yu vorbei auf das Grab hinter ihm.
  „Kannten sie Ken?”, fragte Yu vorsichtig.
  „Nein, nicht wirklich.”, antwortete Ri. „Er war der Freund meines Vaters.”
  „Der Freund Ihres Vaters?”
  „Ja, der Freund unseres Vaters.”
  „Unseres Vaters?!”, rief Yu überrascht. „Wie? Aber...”
  Yu stockte der Atem. Was hatte das zu bedeuten?
  „Aber... aber d-das würde doch heissen... Da-dass wir...!”
  „Ja Yu. Ich bin dein älterer Bruder.”
  Die einzigen Geräusche die noch zu hören waren, waren der Wind der um die Bäume pfiff und in deren ästen raschelte und das Quietschen des Friedhoftores. Die Wolkendecke war aufgerissen und der Vollmond tauchte Ri in ein seltsam mystisches Licht. Er wirkte geheimnisvoll und erhaben. Er sah Yu mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck an.
  Yu stand da wie vom Donner gerührt, den Blick starr auf Ri gerichtet.
  Noch vor ein paar Minuten wusste er nicht wie es weiter gehen sollte. Er hatte geglaubt, dass niemand auf der Welt wusste, dass er da war. Für ihn hatte eine Welt aufgehört zu existieren.
  Aber nun gab es weder Zukunft noch Vergangenheit. Es gab nur diesen einen Moment.
  Alles andere war weit entfernt, war aus seinen Gedanken verschwunden. Um ihn herum war nur noch Dunkelheit und Stille. Die Zeit schien stillzustehen. In seinem Kopf waren nur noch Ris letzte Worte: ′Ich bin dein älterer Bruder′.
  Allmählich löste sich Yus Erstarrung.
  „Warum? äh, ich meine, wie? Woher?”, stotterte Yu und bekam den Satz doch nicht so recht hin.
  „Du meinst, wie ich dich gefunden hab?”, ergänzte Ri. Yu nickte nur.
  „Nun, das war nicht leicht, ich habe eben so meine Methoden.”, Ri grinste.
  Yu hatte keine Ahnung, was Ri meinte und er wollte es auch gar nicht wissen. Er wandte den Blick von ihm ab und blickte hinauf zum Vollmond, der wie eine grosse silberne Kristallkugel am schwarzen Nachthimmel stand. Umschlossen von schweren, dunkelgrauen Gewitterwolken. Es sah aus, als ob es demnächst wieder regnen würde. Stille herrschte.
  Yu wandte sich wider zu Ri um. Dieser blickte ebenfalls zum Himmel hinauf. Er seufzte kurz und wandte sich an Yu.
  „Schön.”, sagte Yu. „Du hast mich jetzt also gefunden und jetzt? Was weiter?”
  „Eigentlich wollte ich nur mal nach dir sehen”, sagte Ri, immer noch zum Mond blickend. „Wollte wissen wie es dir so geht. Ich habe erst heute erfahren, das Ken gestorben ist.”
  Ri hielt inne. Er wich Yus Blick aus. Ein Windstoss zerzauste sein Haar.
  „Komm doch mit mir mit.”, sagte Ri plötzlich.
  „Was?”, entgegnete Yu verdattert.
  „Du könntest bei mir leben, wenn du willst. Allerdings wohne ich ziemlich weit weg von hier. Du müsstest wegziehen. Nun? Was sagst du?”
  Yu senkte seinen Blick. Er könnte bei Ri wohnen. Bei seinem Bruder. Aber stimmte das überhaupt, dass Ri sein Bruder war? Andererseits, warum sollte er ihn belügen, was hätte er davon? Auch wenn er jetzt noch zweifelte. Tief in seinem Inneren hatte er das Gefühl, dass es die Wahrheit war. Hier hielt ihn nichts mehr.
  „Ich kann ja verstehen wenn du nicht willst.”, sagte Ri, wandte sich um und ging.
  „Warte!”, rief Yu hastig. Ri blieb stehen, drehte sich aber nicht um. „Ich will nicht alleine hier bleiben. Ich möchte mit dir mitkommen.”
  Ri drehte sich zu Yu um und lächelte.
  „Also gut.”

Als sie früh am nächsten Morgen aufbrachen, war es noch dunkel. Yu war schon seit Stunden wach. Am Abend zuvor hatte er nicht einschlafen können. Nun sass er in der dunklen Wohnung. Er hatte seinen Rucksack gepackt. Er hatte nur die Dinge eingepackt, die er unbedingt hatte mitnehmen wollen. Das war nicht sehr viel aber sein Talisman war dabei.
  Yu sass auf dem Sofa im Wohnzimmer. Die Jalousien waren noch geschlossen. Er starrte vor sich hin in die Dunkelheit. Nach einer Weile stand er auf und ging zum Bücherregal hinüber. Auf dem Regal stand ein gerahmtes Foto von ihm und Ken. Es war schon einige Jahre alt. Yu nahm es aus dem Rahmen und steckte es ein.
  Es läutete an der Tür. Yu sah sich noch ein letztes mal um. Hierher würde er nie wider zurückkehren. Es würde ihm nicht fehlen.
  Als die Sonne langsam hinter dem Horizont aufging, hatten sie die Stadt längst hinter sich gelassen. Die Landschaft war in sanft goldenes Sonnenlicht getaucht.
  Ri sah bei Tag nicht weniger geheimnisvoll aus. Im rötlichen Sonnenlicht wirkte sein Haar noch wilder und es sah aus als würde es brennen. Die Sonne spiegelte sich in seiner Sonnenbrille, so dass man den Ausdruck seiner Augen nur erahnen konnte. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Yu.
  Der war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Den Kopf gegen das Fenster gelehnt und seinen geliebten Talisman in der Hand fest umklammert. Er war vollkommen erschöpft. In den letzten Tagen hatte er nur sehr wenig oder gar nicht geschlafen. Doch nun hatte die Anspannung nachgelassen. Alle seine Sorgen waren wie weggeblasen. Er liess seine Vergangenheit einfach hinter sich. Zum ersten mal, seit vielen Wochen, konnte er wieder träumen.
  Er träumte, er würde davonfliegen. Leicht wie eine Feder im Wind. Riesige, weisse Schwingen trugen ihn fort. Hinaus aus der Dunkelheit, ins goldene Licht, das hinter dem Horizont strahlte. Der Hoffnung entgegen. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihm ein dunkler Schatten folgte.

Die Landschaft zog an ihnen vorüber. Wälder, Städte, Berge und Täler. All das flog nur so dahin. Yu bekam davon nichts mit. Er schlief die ganze Fahrt über seelenruhig weiter. Die Fahrt dauerte fast den ganzen Tag. Es schien kaum ein Ende nehmen zu wollen.
  Als Yu wider aufwachte, waren sie schon fast am Ziel. Yu öffnete die Augen. Die schon tief stehende Sonne blendete ihn. Yu sah aus dem Fenster. Sie waren mitten in einer Stadt. Yu kannte sie nicht. Noch etwas schläfrig, beobachtete er das geschäftige Treiben auf den Strassen.
  „Na, endlich wider wach?”, hörte Yu eine Stimme neben sich fragen. Er drehte sich um. Ri sah ihn an und lächelte. „Du hast ganz schön lang geschlafen. Fast den ganzen Tag.”
  „Wo sind wir hier?”, fragte Yu.
  „In Tokyo.”
  „Du lebst also hier in Tokyo. Das ist ganz schön gross hier.”
  „Ja, aber ich lebe in der Vorstadt. Das ist ruhiger.”
  Yu sah wider aus dem Fenster. Sie kamen in eine kleine Siedlung. Hier standen hübsche Einfamilienhäuser mit Garten rundherum. Ri hielt vor einem zweistöckigen Haus inmitten dieser Idylle. Es war ein bisschen grösser als die anderen Häuser rundherum. Im Garten standen einige Bäume. Sie stiegen aus. Ri ging zur Haustür und schloss auf. Yu blieb im Garten stehen. Irgendwie kam ihm alles noch ziemlich unwirklich vor, wie ein Traum.
  In diesem Moment hörte Yu hinter sich ein Motorengeräusch. Er drehte sich um. Ein Motorrad kam die Auffahrt hoch. Der Motorradfahrer trug eine schwarze Lederkluft und einen schwarzen Helm mit verdunkeltem Visier. Der Fahrer stoppte sein Motorrad und zog dann den Helm aus. Langes, dunkelblaues Haar fiel auf die Schultern des jungen Mannes. Sein Haar reichte ihm bis über die Schultern. Der junge Mann sah Yu an. Er hatte dunkelblaue Augen. Er sagte kein Wort, strich sich eine Strähne seines langen Haares aus dem Gesicht und richtete seinen Blick auf Ri.
  „Du warst ja ganz schön lange weg Ri.”, sagte der junge Mann mit einem leichten Lächeln.
  „Ja, und?”, entgegnete Ri bissig.
  „Wo bist du gewesen? Warum hast du mir nichts gesagt?”
  „Das geht dich gar nichts an!”
  „Du brauchst nicht gleich sauer zu werden. Ich wollte nur mal fragen. Du warst drei Tage lang spurlos verschwunden. Da macht man sich halt Sorgen.”
  Yu sah zwischen den beiden hin und her. Die beiden sahen sich gegenseitig an. Ri mit gelangweilter Miene und der junge Mann mit einem Lächeln.
  „Wer sind sie?”, fragte Yu den jungen Mann. Dieser sah Yu so verwundert an als hätte er ihn erst in diesem Moment bemerkt. Er fing sich aber gleich wider und antwortete mit einem Lächeln: „Ich bin Shui. Und wer bist du? Dich hab ich hier ja noch nie gesehen.”
  „Ich bin Yu.”, antwortete Yu. Shuis Lächeln gefror aber diesmal fing er sich nicht. Sein Gesicht war wie versteinert. Er sah Yu völlig entgeistert an.
  „Komm schon Yu.”, rief Ri. Er stand in der offenen Haustür und winkte ihn herein. Yu sah zurück zu Shui. Dieser sah ihn immer noch an ohne ein Wort zu sagen. Yu wandte sich ab und ging. Unter der Tür blickte er noch mal zurück. Shui stand immer noch da wie angewurzelt. Ri warf Shui einen wütenden Blick zu und liess die Tür ins Schloss fallen. Wenige Minuten später hörte man Shuis Motorrad davonfahren.

Ris Haus war sehr schön eingerichtet. Der Eingangsbereich war sehr gross und hell. Der Flur führte in zwei Richtungen. Am Ende des Flurs war eine Schiebetür. Durch die kam man ins Wohnzimmer. Darin stand eine schöne dunkelblaue Polstergarnitur um einen niedrigen Couchtisch. Die Decke wurde von zwei hölzernen, balkenartigen Säulen getragen. Am anderen Ende des Raumes stand ein Esstisch und zwischen Tisch und Sofa, war ein Kamin in der Wand. Die hohen Balkontüren neben der Polstergarnitur, liessen jede menge Licht in den Raum.
  Yu stand da und sah sich im Raum um. Alles war so viel grösser als die Wohnung in der er zuvor gelebt hatte. Yu bemerkte Ri, der in der Tür zur Küche stand. Yu ging zu ihm hinüber.
  „Du hast es hier echt schön.”, sagte Yu und lächelte.
  „Ja, ich weiss.”, meinte Ri. „Dein Zimmer ist im oberen Stock. Du kannst es dir schon mal gemütlich machen. Du kannst vor dem Essen noch duschen wenn du willst.”
  Yus Zimmer war sehr geräumig. Im Moment standen in dem Zimmer nur ein Bett, ein kleiner Schrank und ein schöner, kuscheliger Sessel. Yu warf seinen Rucksack aufs Bett und liess sich in den Sessel fallen. Durch das Fenster konnte man in den Garten sehen. Direkt auf den Baum der draussen stand. Die Abendsonne tauchte das Zimmer in ein warmes Licht. Durch das offene Fenster wehte kühle Herbstluft herein. Yu fühlte sich so wohl wie seit langem nicht mehr. Yu blieb noch eine Weile im Sessel sitzen. Er sah den Vorhängen zu, die sich im Wind bewegten.
  Yu stand auf und streckte sich. Er beschloss vor dem Abendessen noch zu duschen und verliess sein Zimmer. Er ging den Flur entlang um ins Baderzimmer zu kommen. Er stutzte als er an einem Wandteppich vorüberging. Er blieb stehen um ihn sich genauer anzusehen. Auf den Stoff war ein Gemälde gestickt. Es zeigte den Horizont unter einem dunkeln Himmel voller Sterne, die den Strahlen der aufgehenden Sonne wichen. Auf der Erde stand eine Gruppe Menschen. Links und rechts im Bild standen zwei schwarze Kreaturen, die die Menschen zusammen drängten. Und zwei Kreaturen die über der Gruppe schwebten. Die Kreaturen waren doppelt so gross wie die Menschen. Sie hatten Hörner, grosse fledermausähnliche Flügel, Reisszähne und Klauen. Sie sahen zum fürchten aus. über der aufgehenden Sonne, schwebten geflügelte Wesen. Sie sahen aus wie Engel mit grossen, weissen Flügeln. Sie hielten Schwerter, Bögen und Lanzen in den Händen. Einige stürzten sich auf die schwarzen Kreaturen. Die anderen blieben in der Luft schweben. Yu wusste nicht genau warum aber das Gemälde hatte eine merkwürdige, fast unheimliche Ausstrahlung. Er sah es sich näher an. Das Bild war ihm irgendwie vertraut. Die geflügelten Wesen, die noch in der Luft schwebten, schienen ihm direkt in die Augen zu sehen. Das ganze war ihm unheimlich. Er wandte sich schnell ab und verschwand im Bad.
  Die Dusche tat ihm gut. Dennoch konnte er das Bild nicht vergessen. Als er zurück in sein Zimmer wollte, kam er nicht umhin noch mal einen Blick drauf zu werfen. Es schien in der kurzen Zeit noch gewaltiger geworden zu sein.
  In seinem Zimmer begrüsste ihn ein kalter Wind. Das Fenster stand immer noch offen. Yu ging hinüber um es zu schliessen. Draussen war es schon dunkel. Yu warf noch einen flüchtigen Blick hinaus. Da hörte er ein Geräusch. Ein Rascheln. Es kam aus dem Baum im Garten. Yu spähte ins Geäst. Ihm stockte der Atem. Im Baum sass eine Gestalt die ihn beobachtete. Das Licht des Raumes spiegelte sich in ihren Augen. Fast im selben Moment verschwand die Kreatur geräuschlos und ohne ein Spur zu hinterlassen.
  Yu schloss das Fenster so schnell er konnte und zog die Vorhänge zu. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Was auch immer das gewesen war. Es hatte die selbe Ausstrahlung wie das Bild das im Flur hing.
  Yu liess sich auf sein Bett sinken. Ihm war eiskalt. Sein Herz pochte immer noch wie wild. Er liess sich rücklings aufs Bett fallen und schloss die Augen. Er versuchte sich an die Gestalt im Baum zu erinnern. Es ging nicht. Alles was blieb, war die Nacht, der Wind und die Schatten der Zweige die ihr Gesicht bedeckt hatten.
  Yu hörte Ri von unten rufen. Er gab den Versuch sich zu erinnern auf . Er warf noch einen Blick zum Fenster. Die Vorhänge hingen nun schlaf am Rahmen herunter. Er zuckte mit den Schultern und ging hinunter.

Das Abendessen verlief ganz ruhig. Sie sprachen nicht viel. Im Kamin prasselte ein Feuer. Das Zimmer war von einem angenehm warmen Licht erfüllt.
  Yus Blick streifte durch den Raum und blieb an einem alten Bild über dem Kamin hängen. Das war eigenartig. Das Bild war ihm vorher nicht aufgefallen. Es zeigte eine art Engel. Yu sah genauer hin. Dieser Engel trug eine Rüstung und hatte ein Schwert in der Hand. Das war kein Engel. Das war das gleiche geflügelte Wesen, wie die auf dem Wandteppich im oberen Stock. Das Wesen auf dem Bild schien Yu direkt in die Augen zu sehen. Fast als wenn es ihn zu irgend etwas auffordern wollte. Das Spiel von Licht und Schatten in dem Bild, liessen es fast echt wirken. Und die Schatten, die das Feuer im Kamin noch dazu warf, liessen Yu glauben, dass das Wesen sich wirklich bewegte und jeden Moment aus dem Rahmen springen konnte.
  Da riss in ein leises Klirren plötzlich aus seiner Trance. Ri räumte den Tisch ab. Yu zögerte aber dann fasste er sich ein Herz.
  „Du, Ri.”. sagte Yu etwas zögerlich.
  „Was ist?”, erkundigte sich Ri.
  „Was ist das eigentlich für ein komisches Gemälde?”, fragte Yu und deutete auf das Bild über dem Kamin.
  „Es sieht dem Wandteppich im Zweiten Stock ähnlich.”
  „Nun..., das hat mit einer alten Legende zu tun.”
  „Eine Legende? Was ist das für eine Legende? Worum geht es?”
  Ri zögerte und überlegte kurz, dann setzte er sich Yu gegenüber.
  „In alter Zeit glaubten die Menschen an übernatürliche Dinge. Zum Beispiel an Geister oder Dämonen. In der Legende heisst es, dass die Welt zu der Zeit von Dämonen terrorisiert wurde. Allerdings gab es ein Volk, welches den Dämonen Wiederstand leisten konnte. Das war aber kein gewöhnliches Volk. Sie lebten in einer Stadt, die sich hinter dem Horizont befand. Sie trugen ausserdem Rüstungen die Leicht wie Luft waren aber so hart waren, dass sie keinen Angriff durchliessen und magische Schwerter. Man nannte sie ′Guardians′. Das Bild da, über dem Kamin zeigt einen von ihnen. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht die Menschen vor den Dämonen zu beschützen. Einst entwickelte sich daraus ein grosser Krieg. Dämonen gegen Guardians. Der Wandteppich oben zeigt die letzte und entscheidende Schlacht. Die Menschen behaupteten damals, dass die Guardians uns von ihrer Stadt aus beobachten konnten und so den Menschen helfen konnten.
  Soweit mein Wissensstand.”
  Ri lachte. Er hielt das Ganze wohl für sehr lustig. Yu konnte darüber allerdings nicht lachen.
  Als Yu später in seinem Bett lag, kreisten seine Gedanken immer noch um das Bild. Als er seine Gedanken zu sammeln versuchte fiel ihm das Wesen aus dem Baum wider ein.
  So ein Schwachsinn. Dachte er. Trotzig machte er sich klar, dass das nur eine Geschichte war und dass die Bilder unmöglich zum Leben erwachen konnten und das Ding im Baum war wohl nur eine Katze gewesen. Yu drehte sich zur Seite und schlief ein.
  Er hatte in dieser Nacht einen Traum, den er schon lange nicht mehr geträumt hatte.
  Ein Traum den er geträumt hatte als er erst ein Jahr alt gewesen war. Er träumte von weissen Flügeln. Die Flügel wiegten sich sanft im Wind und die Federn raschelten leise. Auf einmal schossen Flammen empor aber die Flügel legten sich schützend um Yu und schützten ihn vor den Flammen. Yu konnte die Federn auf seinem Gesicht spüren. Ihm war, als wenn jemand seine Arme um ihn legen würde.

Yu erwachte früh am nächsten morgen. Das Sonnenlicht drang schwach durch die Vorhänge. Yu setzte sich auf und streckte sich. Er sah im halbdunklen Raum umher. Er stieg aus dem Bett, ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Der Garten lag ruhig im Morgenlicht. Ein leichter Wind streichelte sanft die Zweige der Bäume. Yu öffnete das Fenster. Er lehnte sich hinaus und atmete die frische Morgenluft ein. Es war noch recht kühl. Der Horizont war in ein leichtes Orange getaucht.
  Yu verliess sein Zimmer. Das Haus war totenstill. Ri schlief noch. Er war gestern noch lange wach geblieben.
  Yu schlich auf zehenspitzen die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer. Hier war es genauso still. Yu öffnete die Balkontür und trat hinaus. Die Terrasse lag noch im Schatten. Es war eine wunderschöne, alte Holzterrasse. Hier lag ein prachtvoller japanischer Garten. Es gab mehrere Bäume und Zierpflanzen. Es gab auch einen Teich mit Seerosen, über den eine kleine Bogenbrücke führte. Es fehlte nur noch ein antiker Pavillon und man hätte meinen können, dass man sich in den Garten eines Kaiserpalastes verirrt hätte. Yu fröstelte und ging wieder hinein.
  Als Yu wider die Treppe hinauf und in sein Zimmer wollte. Fiel ihm eine weitere Schiebetür auf der anderen Seite des breiten Ganges auf. Die Tür führte in den hinteren Teil des Hauses. Yu ging hinüber und öffnete sie. Hinter der Tür lag ein hoher Raum mit Parkettfussboden. So auf den ersten Blick war an dem Raum nichts ungewöhnliches. Der Raum war vollkommen leer. Es gab keine Möbel. Yu trat hinein. Es war eine art Trainingsraum. In der einen Ecke links hing ein Boxsack von der Decke. Daneben auf dem Boden lagen ein Paar Boxhandschuhe. Rechts stand eine Truhe. Sie war offen. Darin lagen mehrere Trainingsschwerter aus Holz, Wurfsterne, ein Paar Papiere und noch anderer Kram. Daneben lehnten zwei lange Stöcke an der Wand. Solch wie sie oft in den Karatefilmen zu sehen waren. An der Wand hingen verschiedene Waffen. Schmale Dolche, von denen man im Kampf meist zwei einsetzte, Wurfmesser, breite Krummschwerter, europäische Schwerter und einige japanische Samuraischwerter. Sie waren wunderschön. Griff und Schaft waren wunderschön verziert. Manche mit Pflanzen, manche mit hübsch verschlungenen Linien. Einige steckten in ihren ebenso schön verzierten Scheiden.
  An der Wand sah Yu Lichtrefflektionen. Er drehte sich um. Unter dem Fenster, auf dem Boden stand ein niedriger Holztisch. Der war so niedrig, dass man sich bequem hin knien konnte. Auf dem Tisch stand ein kleines Gerüst und auf dem Gerüst lag ein wunderschönes Samuraischwert. Das Schwert steckte in einer feuerroten Scheide. Sie war mit Gold verziert. Auf die Scheide waren Flammen gezeichnet. Yu kniete am Tisch nieder. Sein Herz pochte. Er streckte seine Hand nach dem Schwert aus. Sein Herz pochte schneller und lauter je näher seine Hand dem Schwert kam. Seine Hand schloss sich um die Schwertscheide. Er fühlte das Leder der Scheide zwischen seinen Fingern.
  Yu hob das Schwert vom Gerüst. Zögernd hob er die freie rechte Hand und legte sie um den Griff. Langsam zog er das Schwert aus seiner Scheide. Die lange, schmale Klinge schimmerte im Licht. Yu legte die Scheide zur Seite.
  Er drehte und wendete das Schwert in seinen Händen. Es war ungewöhnlich leicht. Irgendwie hatte das Schwert eine merkwürdige Ausstrahlung. Als wenn es über eine gewaltige Kraft verfügen würde. Er glaubte fast zu fühlen, wie das Schwert vibrierte. Yu sah wie hypnotisiert auf das Schwert. Er war davon so fasziniert, dass er nicht bemerkte, wie jemand hinter ihm den Raum betrat. Erst als der Fremde direkt hinter ihm stand bemerkte er ihn. Yu blickte hinter sich. Hinter ihm stand Ri. Yu drehte sich auf den Knien zu ihm um und wollte ihn grad begrüssen, als Yu vor Schreck erstarrte. Ri sah mit finsterem Blick auf ihn hinab. Seine Augen wanderten von Yus Gesicht zu dem Schwert das er noch immer in der Hand hielt. Noch bevor Yu etwas sagen konnte, hob Ri die Hand und schlug ihn. Mit der anderen Hand entriss er ihm das Schwert. Yu kniete immer noch auf dem Boden und presste seine linke Hand gegen die Wange. Ri stand über ihm. Seine Augen schienen vor Zorn zu brennen. Er sagte kein Wort. Er hob nur die Hand und zeigte nach draussen. Er wollte, dass Yu den Raum verliess. Yu stand auf und eilte an Ri vorbei aus dem Zimmer. Draussen blieb er stehen und spähte vorsichtig um die Ecke in den Raum.
  Ri hatte ihm den Rücken zugewandt. Er steckte das Schwert zurück in die Scheide kniet sich vor den Tisch und legte es fast ehrfürchtig zurück auf das kleine Gerüst.
  Yu ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Seine Wange schmerzte immer noch. Ri war ganz schön kräftig. Er fragte sich was er falsch gemacht hatte. Warum Ri so wütend gewesen war konnte er sich nicht erklären.

Etwa eine Viertelstunde später betrat Ri hastig das Wohnzimmer. Er sah Yu nicht an.
  „Wo willst du hin?”, fragte Yu. Er wollte einfach nur, dass im Ri antwortete.
  „Ich geh arbeiten.”, antwortete Ri kühl. „Ich bin spät dran. Mach keinen Unsinn solang ich weg bin.” Mit diesen Worten eilte Ri aus dem Haus.
  Yu blieb wortlos zurück. Er spürte wie ihm eine Träne über die Wange lief. Er wusste nicht ob er Ri nun verärgert hatte oder ob dieser einfach nur überreagiert hatte.
  Yu hatte keine Lust faul herumzusitzen bis Ri zurück kam. Er beschloss das Haus aufzuräumen. Yu war fast den ganzen Vormittag lang beschäftigt. Das Haus war eigentlich ordentlich aber ein tüchtiger Hausputz konnte hier nicht schaden. In der Küche stapelte sich das Geschirr in der Spüle. Yu machte sich an die Arbeit. Das Geschirr war schnell sauber und versorgt. Danach machte Yu sich an die Fenster. Und danach fegte er das ganze Haus von oben bis unten gründlich aus. Schon nach etwa zwei Stunden war Yu mit der ganzen Hausarbeit fertig.
  Yu setzte sich ins Wohnzimmer und überlegte was er noch tun konnte. Yu sah sich um. Da kam ihm ein Gedanke. Er könnte doch heute Abend das Abendessen machen. Kochen konnte Yu gut und er machte es auch gerne. Yu ging in die Küche und inspizierte Kühlschrank und Küchenschränke. Sie waren nahezu leer. Yu beschloss einkaufen zu gehen.
  Yu nahm den Zweitschlüssel vom Schlüsselbrett neben der Tür, schloss die Tür und zog los.
  Er kannte sich hier zwar noch nicht aus. Aber er hatte den Supermarkt gestern auf dem Weg hierher gesehen und konnte sich noch recht gut an den Weg dorthin erinnern. Yu fand sich in fremden Umgebungen in der Regel schnell zurecht. Das lag allerdings nicht an seinem Orientierungssinn, sondern an seinem Gedächtnis. Yu konnte sich an Weg und Gebäude die er schon mal gesehen hatte immer gut erinnern, was ihm half sich zu orientieren. Nach nur einer halben Stunde hatte Yu den Supermarkt erreicht.
  Der Laden hatte eine hübsche Atmosphäre. Yu ging durch die Regale. Und nach kurzer Zeit hatte er die Dinge zusammen die er brauchte.
  Yu verliess den Laden. Draussen schien die Sonne. Yu blinzelte. Auf dem Weg hierher hatte er eine Abkürzung durch den Park entdeckt.
  Auch die Bäume im Park waren schon verfärbt. Yu kam an einer grossen Pferdestatue aus Bronze vorbei. Das Metall glänzte in der Sonne. Yu blieb stehen und betrachtete die schöne Statue. Auf dem Sockel der Statue sass jemand. Yu ging näher heran. Er erkannte Motorradstiefel, eine Lederjacke und einen dunklen Vollvisierhelm der neben der Person auf dem Boden lag. Es war Shui.
  „Hi Yu.”, sagte er, als er ihn bemerkt hatte. „Na wie geht es dir?”
  „Ganz gut, danke der Nachfrage.”, antwortete Yu.
  Shui strich sich sein langes, blaues Haar aus dem Gesicht. Er lachte.
  „Na, hast du dich bei Ri schon eingelebt?”
  „Na ja, es ist nicht übel. Er ist sehr nett.”
  Shui lachte erneut. „Ach ja? Das wundert mich.”
  „Was wundert dich?”
  „Dass du es schon so lange mit ihm aushälst.”
  „Ich bin doch erst ein Tag hier.”
  „Ja, und das ist jetzt schon rekordverdächtig.”
  Shui schien der Gedanke richtig zu amüsieren. Er rückte auf dem Sockel ein Stück zur Seite und bedeutete Yu sich neben ihn zu setzen. Yu zögerte.
  „Keine Angst ich beisse nicht.”, sagte er lächelnd. „Setz dich doch.”
  Yu setzte sich etwas unsicher zu Shui auf den Sockel. Yu sah Shui an. Sein langes Haar wehte im leichten Wind. Die Sonne ging bereits unter.
  „Sag mal.”, setzte Yu an. „Shui, ist doch chinesisch, hab ich recht?”
  „Jep”, sagte Shui. „Das chinesische Wort für Wasser.”
  „Kennst du Ri eigentlich gut?”, fragte Yu etwas unsicher.
  „Schon.”, gab ihm Shui zur Antwort.
  „Wie gut kennst du ihn?”
  „So gut wie sich Brüder eben kennen können.”
  Shui sah in den Sonnenuntergang. Als er sich wieder Yu zuwandte, musste er erst mal lachen. Yu sass da wie vom Blitz getroffen und starrte Shui mit offenem Mund an.
  „Soll... soll das heissen, dass... dass du und Ri... dass ihr Brüder seid?”, stotterte Yu.
  „Ja, Ri ist mein älterer Bruder.”, lachte Shui. „Und das heisst, dass ich auch dein Bruder bin Yu. Wir drei sind Brüder.”
  Yu glaubte nicht was er da hörte. Shui war also auch sein Bruder. Aber warum hatte Ri ihm das verschwiegen. Yu stand auf.
  „Ich muss gehen. Ich sollte zuhause sein bevor Ri heim kommt.”, nuschelte er und ging ohne Shui noch mal anzusehen.

Yu war ganz in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie die Haustür aufging. Erst als Ri die Küche betrat schwangen seine Gedanken wider in die Realität zurück.
  „Hallo. Na, hattest du einen schönen Tag?”, fragte Yu und versuchte zu lächeln.
  Ri sagte nichts. Er ging wortlos durch die Küche zu Yu hinüber. Ri sah Yu in die Augen und legte seine Hand auf dessen Wange.
  „Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen hab.”, sagte er und strich Yu sanft über die Wange.
  „Ist schon gut.”, sagte Yu lächelnd. „Es hat doch gar nicht weh getan.”
  Ris Hand rutschte von Yus Wange auf seine Schulter. Auch er lächelte.
  „Ich glaube, da brennt etwas an.”, sagte Ri lächelnd
  „Ach herrje!”, rief Yu und holte die Pfanne vom Herd. Ri lachte im Hintergrund und sah Yu zu wie er in der Küche rum hastete.
  „Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst.”, sagte Ri als Yu gerade den Reis vom Herd nahm, der auch schon am überkochen war.
  „Du weisst noch vieles nicht.”, sagte Yu kurz. „Du könntest mir ruhig helfen anstatt da rumzustehen.”
  „Ach, ne. Das schaffst du auch allein.”
  „Könntest du nicht den Tisch decken? Dazu bin ich noch nicht gekommen.”
  „Okay, mach ich. Pass du nur auf ,dass das Essen nicht anbrennt.”

Das Abendessen schmeckte den beiden gut. Yu war wirklich ein guter Koch. Sie redeten, lachten und amüsierten sich bestens.
  „Sag mal Ri.”, begann Yu. „Was arbeitest du eigentlich?”
  „Ich bin Arzt.”, antwortete Ri lächelnd. Yu klappte der Mund auf.
  „Wirklich? Das ist ja Wahnsinn.”, rief Yu begeistert. „Bist Chirurg oder so was?”
  „Nein, nein. Ich bin Kinderarzt.”
  „Ach so. Darum musstest du heute auch so schnell weg oder? Ist es ein Notfall gewesen?”
  „Nein, ich war einfach nur spät dran. Ach übrigens ich hab dich heute bei der Schule angemeldet.”
  „Was? Schule?”
  „Ja was dachtest du denn? Morgen geht′s los. Deine Schuluniform liegt oben.” Ri lachte.
  Yu sass nur da und starrte ihn an. Aber dann musste er auch lachen.
  Yu begann den Tisch abzuräumen. Ri stand auf und ging zum Fenster hinüber. Er sah hinaus in den dunklen Garten. Er dachte an den Tag bevor er zu Yu gefahren war. Er erinnerte sich wie unsicher und nervös er gewesen war . dann dachte er an seinen Vater und an das, was er Yu verschwieg, was er ihm verschweigen musste. Ris Heiterkeit erstarb. Das Herz wurde ihm schwer. In diesem Moment höre man ein lautes Klirren. Ri wirbelte herum und rannte in die Küche. In der Küche kniete Yu am Boden und las die Scherben des Tellers auf, der im gerade aus den Händen gefallen war. Er Lächelte verlegen.
  „Sorry, mir ist der Teller runtergefallen.”, nuschelte Yu.
  „Ist schon gut, ist ja nur ein Teller.”, sagte Ri und half Yu die Scherben aufzusammeln.
  „Du, Ri.”, sagte Yu mit Unschuldsmiene aber doch mit einem ernsten Unterton in der Stimme.
  „Was ist?”, fragte Ri.
  „Ich hab heute Shui getroffen. Wir haben uns ein bisschen unterhalten.” Yu beobachtete Ri aus den Augenwinkeln.
  „Aha, und?” Ri schien ihm kaum zuzuhören. Yu nahm seinen Mut zusammen.
  „Warum hast du mir nicht gesagt, dass Shui mein Bruder ist?”
  Ri war mit einem Schlag wieder voll da. Er sah Yu an als hätte er ihn gerade angeschrieen. Sein Gesicht war kreidebleich. Ri stand auf und ging langsam zurück ins Wohnzimmer, Yu folgte ihm.
  „Ri... Ri antworte mir.”, rief Yu.
  „Also gut.”, sagte Ri langsam und seine Stimme hatte nun etwas bedrohliches. „Shui ist mein kleiner Bruder also ist er auch dein Bruder. Wolltest du das hören?”
  „Warum hast du es mir verschweigen?”
  „Shui und ich verstehen uns nun mal nicht so gut. Trotzdem mischt er sich dauernd in meine Angelegenheiten ein und das mag ich nun mal nicht.”
  „Warum? Warum versteht ihr euch nicht?”
  „Meinungsverschiedenheiten.” Ri blickte nun finster drein.
  „Was für Meinungsverschiedenheiten? Worüber denkt ihr den so abartig verschieden?” Yu wusste nicht was in ihn gefahren war. Er wollte unbedingt wissen was zwischen Ri und Shui vor ging.
  „Du bist ganz schön neugierig”, sagte Ri langsam. „der Grund für unsere Meinungsverschiedenheiten bist du.”
  „Was? Aber warum?” Ri gab keine Antwort. Er stand bewegungslos da. Den Blick auf Yu gerichtet.
  Es klingelte an der Tür. Ri ging an Yu vorbei. Yu starrte auf den Punkt wo Ri eben noch gestanden hatte. Yu hörte Ris Stimme von der Haustür her.
  „Wenn man vom Teufel spricht. Was willst du hier?”, sagte Ri in scharfem Ton.
  „Ich muss unbedingt mit dir reden.”, hörte Yu eine bekannte Stimme antworten.
  Yu schlich zur Schiebetür und Spähte um die Ecke. In der Haustür stand Shui.
  „Ich hab dir nichts zu sagen.”, sagte Ri bestimmt und wollte die Tür schliessen. Shui stellte seinen Fuss in die Tür, stiess sie auf und stürmte ins Haus.
  „Verdammt Ri.”, rief Shui empört und packte ihn am Hemdkragen. „Du weisst dass ich recht hab.” Ri sah Shui mit zornfunkelnden Augen an.
  „Du kennst meine Meinung und daran wirst du nichts ändern.”
  „Bist du blöd oder tust du nur so. willst du Yu etwa vollkommen schutzlos in diese Welt schicken?”
  „Natürlich nicht. Ich werde ihn da raushalten. Er wird wie ein normaler Junge aufwachsen.”
  „Oh, wach doch auf Ri. Früher oder später wird er es erfahren und dann könnte es vielleicht zu spät sein.” Shui liess Ri los. Er ging an ihm vorbei.
  „Mir doch egal was du denkst.”, sagte Shui aufgebracht. „Ich werde das ganze auf jeden Fall nicht mit ansehen. Yu muss wissen was...”
  Shui konnte seinen Satz nicht beenden. Ri hatte ihn an der Kehle gepackt und presste ihn gegen die Wand.
  „Yu, geh ins Bett. Du musst morgen zur Schule”, sagte Ri mit bemüht ruhiger Stimme.
  Wortlos rannte Yu an den beiden vorbei, die Treppe hoch in sein Zimmer. Yu machte kein Licht. Er warf sich aufs Bett und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. Noch nie war er so erschrocken wie gerade eben. Ri hatte ausgesehen als würde er Shui jeden Moment umbringen. Es war ihm im Moment unvorstellbar, dass die beiden Brüder seien. Yu war völlig ratlos. Worüber redeten sie überhaupt. Was meinten sie mit dieser ′Welt′ die Yu früher oder später noch kennen lernen würde. Yu konnte sich auf all das keinen Reim machen. Langsam schwammen ihm die Gedanken davon. Er wurde schläfrig und wenig später umhüllte ihn Dunkelheit.
  Als Ri später am Abend das Zimmer betrat, war Yu längst eingeschlafen. Ri setzte sich zu Yu auf die Bettkante. Er strich Yu durch sein rabenschwarzes Haar und über seine Wange. Er seufzte.
  „Ach Yu.”, flüsterte Ri. Seine Stimme klang bedrückt. „Was soll ich nur tun? Wie lange wird es wohl dauern bis sie es herausfinden? Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin dich vor ihnen allen zu beschützen. Ich weiss nicht wie ich es dir beibringen soll, irgendwann musst du es ja erfahren. Eins ist sicher. Ich lasse nicht zu, dass sie uns noch einmal trennen. Wir gehören zusammen. Wir alle.”
  Ri stand auf und deckte Yu zu. Unter der Tür drehte er sich noch mal um. Yu wirkte im Schlaf so friedlich und wehrlos. Ri zog die Tür hinter sich zu.

Der nächste Tag lockte mit strahlendem Sonneschein. Die Sonne stieg allmählich über den Horizont hinauf und warf ihr Licht durch Yus Zimmerfenster.
  Yu stand vor dem Spiegel und probierte seine neue Schuluniform an, die ihm Ri gestern mitgebracht hatte. Yu kam sich etwas komisch vor. Zuvor hatte er drei Jahre lang die selbe Uniform getragen. Obwohl, er fand den schwarzen Blaser mit der passenden Hose gar nicht so übel. Yu schnappte sich seinen Rucksack und eilte, fröhlich pfeifend, die Treppe hinunter. Ri sass schon am Tisch und wartete auf ihn. Er wirkte ganz ruhig und ausgeglichen. Als wenn nichts gewesen währe. Yu fragte sich, ob er Ri auf gestern Abend ansprechen solle. Er liess es lieber bleiben. Ri hatte gerade so gute Laune. Die wollte Yu ihm nicht verderben.
  „Gut geschlafen?”, fragte Ri, als Yu sich gesetzt hatte.
  „Ja ziemlich gut.”, antwortete Yu.
  Sie redeten nicht viel. Nach etwa einer halben stunde stand Ri auf und sagte: „Wir sollten langsam gehen, wenn du an deinem ersten Schultag nicht zuspäht kommen willst.”
  Yu stand auf und folgte Ri nach draussen. Ri fuhr Yu zur Schule.

Das Schulareal war ziemlich gross und das Schulhaus erst recht. Yu betrat die Eingangshalle. Neben der Tür war ein Lageplan. Yu warf einen kurzen Blick drauf um das Sekretariat ausfindig zu machen. Er ging einen Langen, breiten Gang entlang. Vorüber an den anderen Schülern und mehreren Klassenzimmern. Am Ende des Ganges war ein Raum. An der Tür stand ,Sekretariat, bitte klingeln.′ Yu seufzte und drückte auf den Klingelknopf. Eine junge Frau öffnete die Tür.
  „Ja, bitte?”, fragte sie und lächelte.
  „ähm, mein Name ist Yu Mizuno. Ich bin neu hier.”, sagte Yu leise.
  „Ach ja, du bist ja der Neue. Ich bin deine Lehrerin. Ich heisse Hanasaki.”
  Fräulein Hanasaki ging voran. Sie stoppte vor einem Klassenzimmer, das nicht weit weg war. Fräulein Hanasaki öffnete die Schiebetür und trat hinein. Yu folgte ihr. Die Klasse war bereits vollständig. Fräulein Hanasaki trat zum Lehrerpult und wandte sich der Klasse zu.
  „Guten Morgen alle miteinander.”, begann sie. „Ich möchte euch euren neuen Mitschüler vorstellen. Sein Name ist Yu Mizuno.”
  Yu entging nicht, dass einige bei seinem Namen stutzten. Fräulein Hanasaki schrieb in der Zwischenzeit Yus Namen an die Wandtafel.
  „Entschuldigen Sie.”, warf Yu ein. „Aber sie haben es falsch geschrieben.”
  Fräulein Hanasaki stutzte. „Was stimmt den nicht.”, fragte sie und reicht Yu das Kreidestück. Yu trat an die Tafel. Er wischte das Zeichen weg und schrieb ein anderes an die Tafel.
  Eine Schülerin in der ersten Reihe hob plötzlich die Hand.
  „Ja, was ist Ayashi?”, sagte Fräulein Hanasaki.
  „Fräulein Hanasaki, ist das Zeichen nicht chinesisch?”, fragte Ayashi aufgeregt.
  „Ganz genau. Das Zeichen ist altchinesisch und bedeutet ′Feder′. So und jetzt wollen wir mit dem Unterricht anfangen. Setz dich doch dort hinten hin Yu.”
  Yu ging durch die Bankreihen zu seinem Platz. Yu spürte, dass ihm einige Blicke folgten.
  Der erste Schultag verlief ganz ruhig. Der Unterricht war etwas langweilig gewesen, aber das war ja Normalzustand. Yus Klassenkameraden waren sehr nett. In der Mittagspause hatten sich einige zu ihm gesetzt, als er allein in einer Ecke des Schulhofes sass. Sie wollten alles über ihn wissen. Ayashi interessierte sich vor allem für seinen ungewöhnlichen Namen. Dass seine Eltern tot waren und dass er bei seinem grossen Bruder lebte, behielt er allerdings vorerst für sich.

Nach Schulschluss machte sich Yu allein auf den Weg. Er ging zur Bushaltestelle und nahm den Bus zum Hospital. Das Krankenhaus, in dem Ri arbeitete, war von der Schule aus mit dem Bus leicht zu erreichen. Yu hatte mit Ri verabredet, dass er nach Schulschluss ins Krankenhaus kommen würde und dass sie dann zusammen nach hause gehen würden.
  Der Bus war um diese Uhrzeit rappelvoll. Hauptsächlich Schüler auf dem weg nach hause. Schliesslich hielt der Bus vor dem Hospital. Yu stieg aus und sah an dem riesigen Gebäude hoch. Die tiefstehende Sonne blendete ihn. Yu ging hinein. Die Eingangshalle war riesig. Er fragte sich, wie er Ri in diesem riesigen Krankenhaus finden sollte. Yu ging zur Rezeption um nach Ri zu fragen.
  „Entschuldigen sie.”, sagte Yu zu der Dame an der Rezeption.
  „Ja, was kann ich für dich tun?”, fragte sie.
  „Ich suche Ri Mizuno.”
  „Mizuno?”, die Dame tippte auf die Computertastatur und klickte ein paar Mal mit der Maus.
  „Es tut mir leid aber wir haben hier keinen Patienten mit diesem Namen.”
  „Nein, nein. Ri ist kein Patient. Er arbeitet hier.”
  „Das macht es nicht einfacher. Wir haben hier sehr viel Personal. Wo arbeitet er den genau?”
  „Er ist Kinderarzt.”
  „Ach so, du meinst Dr. Mizuno. Der ist auf der Kinderstation im zweiten Stock.”
  „Danke.”
  Yu fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, schlug ihm der vertraute Krankenhausgeruch entgegen. Yu konnte Krankenhäuser noch nie leiden. Er hatte nur schlechte Erinnerungen an Krankenhäuser.
  Plötzlich wurde Yu von den Füssen gerissen. Ein Junge war durch den Gang gerannt und mit ihm zusammengeprallt. Der Junge war offensichtlich ein Patient.
  „Ist alles in Ordnung?”, fragte Yu und half dem Jungen wider auf.
  „Versteck mich!”, rief der Junge panisch.
  „Was? Wieso?”
  „Ich will nicht, dass sie mir wieder Blut abnehmen.”
  „Aber das ist doch nichts Schlimmes.” Der Junge machte ein wehleidiges Gesicht.
  „Es tut aber weh.”
  Yu dachte kurz nach. Da kam ihm gerade eine Idee. Er kniete sich hin damit er mit dem Jungen auf Augenhöhe war.
  „Weisst du. Als ich so klein war wie du hatte ich davor auch angst. Der Arzt hat mir damals gesagt, ich solle mir einfach etwas schönes vorstellen. Willst du wissen woran ich immer gedacht habe?”
  Der junge nickte zaghaft.
  „Ich habe mir vorgestellt ich würde fliegen.”
  „Fliegen?”
  „Ja. Ich habe versucht mir die Landschaft und den Wind vorzustellen und ehe ich mich versah, war alles vorbei.”
  Der Junge begann zu lächeln. Er sah Yu an und sagte dann in einem schwärmerischem Ton: „Ich würde so gerne mal fliegen wie ein Vogel.” Yu grinste.
  „Du solltest mal in dein Zimmer zurück, bevor man sich hier noch Sorgen macht.” Yu stand auf . Der Junge nahm ihn an der Hand und führte ihn durch die Gänge in sein Zimmer.
  „Wie heisst du eigentlich?”, fragte der Junge als sie in seinem Zimmer angekommen waren.
  „Ich heisse Yu. Und was ist mit dir?”
  „Ich bin Mamoru.”, antwortete der Junge stolz. „Weisst du. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie es wohl ist fliegen zu können. So ohne Flugzeug oder Drache. Sag das bitte keinem aber ich wünsche mir schon lange, einmal fliegen zu können. So mit Flügeln. Das ist aber ein Geheimnis.”
  „Schon gut, ich sag es keinem weiter.”, sagte Yu grinsend und legte den Finger über die Lippen.
  „Weisst du mein Vater ist Pilot.”
  „Wirklich?”
  „Ja, er fliegt Passagierflugzeuge. Ich durfte sogar mal mit ins Cockpit. Er ist viel unterwegs, darum kann er mich nur selten besuchen wenn ich im Krankenhaus bin. Dafür bringt er mir immer etwas von seinen Reisen mit”
  „Das ist schön. Dafür besucht dich deine Mutter oft oder?”
  „Nein, meine Mutter ist Lehrerin und arbeitet auch den ganzen Tag. Sie kommt aber immer Abends und am Wochenende.”
  „Schön.”, sagte Yu mit einem sanften Lächeln.
  In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Zimmer. In der Tür stand ein Mann im Arztkittel. Es war Ri.
  „Guten Abend Dr. Mizuno.”, rief Mamoru begeistert.
  „Mamoru, wo warst du. Die Schwester sucht dich überall.”, sagte Ri mit sanfter aber ernster Miene.
  „Tut mir Leid. Ich wollte keinen ärger machen.”
  „Schon gut. Aber jetzt darfst du nicht mehr weglaufen, die Untersuchung ist wichtig.”
  „O.k. ich geh gleich zur Schwester und lass mir Blut abnehmen.”
  „Nanu? Keine Angst mehr vor Nadeln? Woher der plötzliche Sinneswandel?”
  „Er hat mir gesagt, dass ich einfach an was schönes denken muss und dann geht es ganz schnell und tut gar nicht weh.”, sagte Mamoru grinsend und zeigte auf Yu. Ri sah zu Yu hinüber und schmunzelte.
  „Wie es aussieht hast du meinen Bruder schon kennen gelernt.”
  „Ach, Dr. Mizuno ist dein Bruder Yu?”
  „Ja, so ist es.”, antwortete Yu etwas verlegen. Ri lachte.
  „Warte hier kurz Yu.”, sagte Ri zu seinem Bruder. „Ich bin gleich bei dir.”

Eine Viertelstunde später sassen sie in Ris Wagen. Und waren auf dem Weg nach Hause.
  „Er mag dich.”, sagte Ri auf einmal.
  „Wen meinst du?”, fragte Yu verwirrt.
  „Ich rede von Mamoru. Normalerweise ist er nicht so zutraulich.”
  „Na ja, wir sind im Flur zusammengestossen und sind dann ins Gespräch gekommen.”
  „Das meine ich ja. Sonst spricht er mit niemandem. Die Schwester meinte, er habe noch nie so still hingehalten beim Blutabnehmen wie heute. Ach übrigens. Mamoru hat gesagt, dass du ihn jeder Zeit besuchen kannst.”
  Ri grinste, Yu gab aber keine Antwort. Er sah zum Fenster hinaus und schien nicht ganz zugehört zu haben. Ri konnte Yu aus den Augenwinkeln sehen.
  „Stimmte etwas nicht?”, fragte Ri etwas besorgt. Yu seufzte.
  „Ich musste heute nur wieder an die Zeit denken als ich selbst öfters ins Krankenhaus musste.” Yu schwieg und Ri bohrte nicht mehr nach.
  Zuhause verschwand Yu in seinem Zimmer und kam für den Rest des Abends nicht mehr heraus. Ri hatte es sich im Wohnzimmer mit seinem Lieblingsbuch gemütlich gemacht.
  Es war schon reichlich späht als Ri von seinem Buch aufsah. Yu war jetzt schon seit Stunden in seinem Zimmer und war nicht einmal herunter gekommen. Langsam machte sich Ri ein bisschen Sorgen. Er war seit der Rückfahrt vom Krankenhaus ziemlich still gewesen. Ein bisschen blass war er auch. Vielleicht brütete er ja etwas aus. Ri beschloss lieber mal nach Yu zu sehen.
  „Hey, Yu. Kann ich rein kommen?”, rief Ri als er an Yus Zimmertür klopfte. Es kam keine Antwort. Ri klopfte noch mal an die Tür.
  „Yu? Ist alles in Ordnung?”
  Im Zimmer war ein leises Geräusch zu hören. Die Türklinke wurde heruntergedrückt und die Tür öffnete sich. Yu stand in der Tür. Er wirkte niedergeschlagen.
  „Komm rein.”, sagte Yu dumpf und ging zum Fenster hinüber. Das Fenster stand offen. Yu hatte den Sessel zu Fenster gerückt und liess sich nun wieder darin nieder. Ri setzte sich auf Yus Bett und liess den Blick auf ihm ruhen.
  „Was ist mit dir Yu?”, fragte Ri in besorgtem Ton.
  „Nichts, ich bin in Ordnung.”
  „Komm schon. Ich seh doch, dass du was auf dem Herzen hast.”
  „Na ja, es ist... ich weiss nicht wie ich es sagen soll.”
  „Hey, ich bin doch dein Bruder. Mir kannst du es doch erzählen.”
  Yu blickte aus dem offenen Fenster in die Dunkelheit hinaus. Nach einer Weile drehte er sich zu Ri um. Yus Augen waren matt.
  „Heute hat mir Mamoru von seinen Eltern erzählt. Von seinem Vater und seiner Mutter, die ihn wegen ihrer Arbeit nicht so oft besuchen können. Da musste ich an die Zeit denken als ich selbst im Krankenhaus war. Ich litt damals unter Anämie. Ich hatte oft Schwächeanfälle und musste daher auch oft ins Krankenhaus. Ausser Ken hatte mich damals niemand besucht. Die ganzen andern Kinder wurden fast jeden Tag von ihren Eltern besucht. Ich fühlte mich einsam und alleingelassen.
  Ri, ich weiss gar nichts über meine Eltern. Ich kann mich nicht an ihr Aussehen erinnern oder an ihre Stimmen. Sechzehn Jahre lang war ich ganz allein. Es fühlt sich an, als wenn ich einfach so in diese Welt hinein geworfen worden währe. Als wenn keiner merken würde, dass ich existiere. Ich würde so gern wissen wer meine Eltern waren und wo ich herkomme. Ich will meine Vergangenheit kennen.”
  Yu liefen Tränen über die Wangen. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Ri hatte ihm zugehört ohne ein Wort zu sagen.
  „Komm her Yu.”, sagte er und versuchte zu lächeln. Yu stand auf und setzte sich neben Ri aufs Bett. Ri nahm Yu in den Arm.
  „Ich erinnere mich auch kaum an unsere Eltern, darum kann ich dir nicht viel über sie erzählen aber ich könnte sie dir beschreiben. Wär das okay?” Yu nickte nur kurz.
  „Unser Vater war gross und sehr stark. Er konnte uns alle drei gleichzeitig aufheben. Er war zwar streng aber auch sehr lieb. Deine Mutter war kleiner als Vater. Ihre Augen waren so hell wie deine. Sie war wunderschön und hatte lange dunkle Haare. Sie konnte sehr gut backen. Sie war die beste Mutter die man sich vorstellen konnte. Es gab nichts was sie für dich nicht getan hätte oder für mich und Shui.”
  Ri hielt inne. Yu hatte die Augen geschlossen um sie sich besser vorstellen zu können.
  „Weisst du Yu.”, fuhr Ri fort. „Du solltest nicht so viel über die Vergangenheit nachdenken. Dadurch wird es auch nicht besser.”
  „Vielleicht hast du recht.”, sagte Yu nachdenklich.
  Die beiden schwiegen. Nach einer Weile bemerkte Ri, dass Yu eingeschlafen war. Yus Kopf lehnte gegen Ris Schulter. Ri hob Yu hoch und legte ihn ins Bett. Ri ging hinüber zum Fenster, schloss es und zog die Vorhänge zu. Dann ging er zurück zum Bett. Er strich Yu das Haar aus dem Gesicht. Ri tat es in der Seele weh Yu so zu sehen. Am liebsten hätte er Yu die Wahrheit gesagt. Aber das konnte er nicht. Er würde ihn damit nur in Gefahr bringen.

Der nächste Tag war ruhig und heiter. Der zweite Schultag war nicht anders als der erste. In der Schule behandelten sie gerade das Thema ′Mythen er Vergangenheit′. Es war nicht uninteressant. Aber trotzdem konnte sich Yu nicht so ganz für den Unterricht begeistern. Der Sportunterricht brachte auch nicht viel Interessantes. Ihr Sportlehrer war noch relativ jung, so Ende zwanzig, Anfang dreissig und ziemlich muskulös. Sie spielten Fussball. Yu war nicht gerade der beste Fussballspieler aber er war wendig und konnte allen entwischen.
  Als die Schulglocke abends das Ende des Schultages verkündete, strömten alle Schüler aus ihren Klassenzimmern und nach draussen. Nur Yu und sein Mitschüler Mako blieben noch im Klassenzimmer. Sie hatten noch Reinigungsdienst. Yu wischte gerade den Fussboden mit dem Besen als Mako sich zu ihm wandte.
  „Und? Wie findest du unsere Klasse?”, fragte er aufgestellt.
  „Ach nicht übel.”, antwortete Yu knapp.
  „Na ja, das sagen die meisten. Aber wart nur bis du sie besser kennst. Lauter Chaoten sag ich dir. Aber ganz nett, alle zusammen.”
  „Hab ich gemerkt.”
  „Du bist ja nicht sehr gesprächig.”
  Yu gab keine Antwort. Mako war ein bisschen durchgeknallt aber sonst war er ein netter Bursche. Er war der erste der sich mit Yu unterhalten hatte. Er war auch sehr wissbegierig. Mako war um einiges grösser als Yu und hatte helle Haare. Er sah gut aus und war sportlich.
  In diesem Moment betrat Kenichi den Raum. Er war der Klassenplayboy. Man sagte, dass er jedes Mädchen haben könne, das er wollte. Er war einer derjenigen die Yu nicht so mochte. Er war ganz schön eingebildet. Er war zwar der Klassenschwarm aber im Sportunterricht war er eine Niete und in Geschichte und Englisch war er auch nicht gerade der überflieger.
  Yu selbst war auch nicht gerade ein Musterschüler aber besser als Kenichi war er allemal. Mako hingegen war ein Mathegenie aber Englisch war seine Schwäche.
  „Na, macht′s schrubben spass?”, höhnte Kenichi.
  „Hast du heute keinen Geigenunterricht oder Tennis oder was auch immer?”, fragte Mako genervt.
  „Heute nicht. Meine Lehrer ist krank. Darum habe ich heute Abend frei.”
  „Dan kannst du uns ja ausnahmsweise mal beim saubermachen helfen.”
  Mako hielt Kenichi den Besen entgegen. Kenichi sah Mako mit nem scheelen Blick an.
  „Das ist wohl ein Scherz? Das ist eure Aufgabe. Also dann bis morgen.”
  Kenichi drehte sich um und wollte gehen aber als er das Zimmer verlassen wollte stolperte er über Yus Besen und stürzte zu Boden. Mako schmiss sich fast weg vor Lachen. Yu streckte Kenichi seine Hand entgegen.
  „Komm, ich helfe dir auf.”, sagte er freundlich.
  Kenichi griff nach Yus Hand. Yu zog Kenichi auf die Beine. Kenichi klopfte sich energisch den Staub von den Kleidern und bedankte sich knapp bei Yu. Daraufhin verschwand er ohne weitere Worte.
  „Hab ich was falsch gemacht?”, fragte Yu verdattert.
  „Mach dir nichts draus Yu.”, sagte Mako. „Kenichi ist immer so. Das liegt nicht an dir. Ich währ überrascht wenn Kenichi jemals freiwillig sich mit jemandem länger als fünf Minuten unterhält.”
  Yu und Mako lachten. Den Rest der Arbeit hatten sie schnell erledigt.

Als sie gemeinsam das Schulgebäude verliessen, war die Sonne bereits dabei hinter dem Horizont zu versinken. Ein erfrischender Wind streichelte die Baumwipfel. Die beiden machten sich auf den Weg zum Bahnhof. Yu kannte den Weg und wollte heute direkt nach hause. Mako musste ein Stück weit in die selbe Richtung.
  „Sag mal Mako.”, begann Yu, als die beiden im Zug sassen. „Wo genau wohnst du eigentlich genau?”
  „Ich wohne drei Stationen weiter in den grossen Blöcken. Und du?”
  „ Endstation und dann noch zwei Querstrassen weiter.”
  „Holla, in so einer noblen Gegend Wohnst du? Is ja doll. Deine Eltern müssen ja Geld wie Heu haben.”
  „Na ja.”
  „Bei uns ist das leider etwas anderes.”
  Mako schwieg. Yu merkte, dass ihm etwas auf der Zunge brannte.
  „Möchtest du dich aussprechen Mako?”, fragte Yu.
  „Weisst du, Yu. Ich habe drei Geschwister. Eine grosse Schwester, eine kleine Schwester und einen kleinen Bruder. Meine Mutter muss den ganzen Tag arbeiten und meine Schwester arbeitet abends um die Familie durchzubringen.”
  „Und was ist mit deinem Vater?”
  „Mein Vater? Der ist abgehauen, kurz nach der Geburt meiner kleinen Schwester. Das war vor etwa zehn Jahren. Seit dem sind wir auf uns gestellt.”
  „Oh, das tut mir Leid Mako.”
  „Mach dir nichts draus Yu. wir kommen gut zurecht. Wir sind bis jetzt alle satt geworden und haben auch sonst keine Geldprobleme. Was ist eigentlich mit dir? Du erzählst nie etwas über dich oder deine Familie. Wie lebt ihr so? Was geht bei dir zuhause vor?”
  Yu sah weg. Er wollte seine Geschichte lieber für sich behalten. Es war ihm ein bisschen unangenehm bei dem Gedanken, dass jeder über ihn bescheid wusste und dass ihn deshalb jeder ′vorsichtig′ behandelte. Er wandte sein Gesicht wieder Mako zu. Dieser sah ihm direkt in die Augen. Yu hatte das Gefühl, dass Mako nie etwas weiter sagen würde, wenn er ihn darum bitten würde.
  „Na ja.”, Begann Yu unsicher. „Ich lebe bei meinem grossen Bruder. Meine Eltern sind gestorben als ich noch ein Baby war. Ich wohne erst seit kurzem bei ihm.”
  „Das wusste ich ja gar nicht.”
  „Ich will auch nicht, dass es alle wissen.”
  Mako sagte kein Wort aber er nickte zustimmend. Yu wusste, dass Mako es nicht weiter sagen würde.
  „Hier muss ich aussteigen.”, sagte Mako als der Zug hielt. „Machs gut, bis morgen.”
  „Bis morgen dann.”, antwortete Yu.

Der Zug fuhr weiter. Die Sonne war bereits so weit versunken, dass von ihr nur noch ein blassorangefarbener Streifen am Horizont zu sehen war. Nur ein paar Minuten später war sie ganz verschwunden. Die Lampen im Zug gingen an. Ausser Yu war nur noch eine ältere Dame im Wagon. Diese stieg allerdings an der nächsten Haltestelle aus. Gleichzeitig stieg ein junger Mann ein. Yu war er unheimlich. Er hatte eine zerschlissene Jeans und eine abgetragene Lederjacke an. Sein bleiches Gesicht und die dunklen Augenringe verliehen ihm das Aussehen eines Zombies. Der junge Mann liess sich ganz in Yus nähe aus einen Platz sinken und heftete seinen Blick au Yu. Yu sah aus dem Fenster. in der Schwarzen Scheibe konnte er das Spiegelbild des Fremden sehen, der ihn beobachtete.
  Yu war froh als der Zug endlich die Endstation erreicht hatte und er aussteigen konnte. Yu packte schleunigst seinen Rucksack und eilte aus dem Wagon. Der junge Mann folgte ihm. Yu lief so schnell er konnte über den ausgestorbenen Bahnhof. Durch die Totenstille konnte Yu die Schritte des Fremden hinter sich hören. Yu stolperte über seine eigenen Füsse. Er drehte sich um. Der Fremde kam näher, bis er nur noch etwa drei Meter von Yu entfernt war und blieb stehen. Yu stand auf. Den Blick immer auf den Fremden gerichtet. In der Schwachen Beleuchtung konnte er sein Gesicht nur düster sehen aber das hämische Grinsen war ganz deutlich zu erkennen. Yu schlug das Herz bis zum Hals.
  „Was... was wollen sie?”, fragte Yu mit zittriger Stimme. Der Fremde grinste noch breiter und sagte: „Nur deine Energie.”
  Nur eine halbe Sekunde später verwandelte sich der Arm des Fremden in eine hässliche schwarze Klaue und packte Yu am Hals. Der Arm des Fremden dehnte sich auf die doppelte Länge und presste Yu gegen die Wand. Die Klaue schlang sich um Yus Kehle und würgte ihn. Yu hatte das Gefühl, als wenn die Klaue etwas aus ihm raussaugen würde. Yu rang nach Luft, seine Knie wurden weich und sein Blick trübte sich. Das schallende Lachen des Fremden dröhnte in seinen Ohren. Yu wollte um Hilfe rufen aber als er seinen Mund öffnete entwich seiner Kehle nur ein schwaches Keuchen. Yu glaubte er müsse sterben.
  Ein sirrendes Geräusch durchschnitt die nächtliche Stille. Ein Pfeil aus Feuer schoss zwischen ihnen durch und durchtrennte den Arm des Fremden. Yu rutschte an der Wand hinunter. Die Klaue schlang sich immer noch um seinen Hals. Yu sah ächzend in die Richtung aus der der Pfeil gekommen war. Nicht weit von ihnen entfernt standen zwei Gestalten. Das schummrige Licht erleuchtete sie nur schwach. Der eine der beiden hielt einen Bogen in den Händen. Er hob den Bogen auf Augenhöhe und spannte ihn. Auf der Sehne entflammte ein Pfeil. Das Licht des aufflammenden Pfeils erhellte das Gesicht des Schützen. Es war Ri.
  Nun war auch die Gestalt neben ihm im Feuerschein zu erkennen. Es war Shui der ein Schwert in der Hand hielt. Ein Windstoss zerzauste den beiden das Haar, dass es aussah wie Feuer und Wasser. Das Licht des brennenden Pfeils fiel auf ein paar weisse Flügel die die beiden auf dem Rücken trugen.
  Ris Gesicht wirkte eiskalt. Seine Augen schienen zu brennen. Der Pfeil zielte genau auf den Fremden.
  „Lass diene Pfoten von ihm oder du wirst es bereuen!”, rief er mit zornbebender Stimme.
  Der Fremde drehte sich zu Ri um und richtete sich auf. Der Fremde schien zu wachsen. Aus seinem Rücken sprossen riesige schwarze, von einer lederigen Haut überspannte Flügel. Aus dem Mund wuchsen ihm lange Reisszähne und die Augen nahmen eine blutrote Farbe an.
  Das Wesen lies ein schallendes Lachen hören.
  „Glaubst du Mikerling etwa, dass du mich auf halten kannst?”, brüllte er mit tief donnernder Stimme. Er drehte sich nach Yu um und heftete seinen Blick auf ihn. Ruckartig zog sich die Klaue zusammen und quetschte Yu die Kehle zusammen.
  Ohne mit der Wimper zu zucken liess Ri den Pfeil los. Der Pfeil schoss von der Sehne des Bogens und durchschlug die linke Schulter des Monsters. In diesem Moment stürmte Shui vor mit erhobenem Schwert. Er setzte zum Sprung an, stiess sich vom Boden ab und schlug mit den Flügeln. Diese trugen ihn auf Augenhöhe mit dem Monster. Shui hob das Schwert mit beiden Händen über seinen Kopf und liess es mit aller Kraft auf den Kopf des Monsters nieder sausen. Das Schwert spaltete den Kopf des Monsters.
  Shui landete sanft auf den Füssen. Der Körper des Monsters ging in blaue Flammen auf. Die Klaue löste ihren Griff um Yus Hals. Yu schnappte nach Luft und wurde ohnmächtig.

Yu war schwindlig, sein Hals schmerzte und seine Lungen brannten. Langsam kam er wieder zu sich. Yu wusste nicht was geschehen war oder warum er hier lag. Er hatte geträumt, dass er von einem merkwürdigen Wesen angegriffen wurde und dass er von Ri und Shui gerettet worden war. Er öffnete blinzelnd die Augen. Er nahm eine verschwommene Gestalt wahr die sich über ihn beugte.
  „Na, wieder wach?”, sagte die Gestalt.
  „Shui?”, sagte Yu schwach.
  „Hey Ri, er ist wieder zu sich gekommen!”, rief Shui. „Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt.”
  Yu blinzelte. Er lag auf dem Sofa in Ris Wohnzimmer. Dann bemerkte er, dass Shui sich nicht über ihn beugte sondern dass er über ihm in der Luft schwebte. Yu verschlug es den Atem. Fast währe er vor Schreck vom Sofa gefallen. Shui kicherte amüsiert.
  „Lass den Quatsch Shui!”, rief Ri von der Tür her.
  In der Hand hielt er das rote Schwert aus dem Trainingsraum, welcher Yu an seinem ersten Tag entdeckt hatte.
  Yu richtete sich auf. Nervös blickte er zwischen Shui, der immer noch in der Luft schwebte und Ri hin und her. Es war also doch kein Traum gewesen.
  „I-ihr zwei.”, stotterte Yu. „I-ihr wart am B-bahnhof... und dieser Fremde... dieses M-monster... und ihr.. ihr habt.”
  „Ich denke, wir schulden Yu eine Erklärung.”, sagte Shui zu Ri gewandt.
  Ri liess sich auf das Sofa den beiden gegenüber sinken und sah Shui grimmig an.
  „Wenn du es nicht tust, tue ich es.”, sagte Shui erneut und liess sich neben Yu auf dem Sofa nieder.
  „Schon gut, schon gut.”, sagte Ri beschwichtigend. Offenbar fiel es ihm nicht leicht. Er suchte nach dem passenden Anfang. Er sah das Bild über dem Kamin an.
  „Sag Yu.”, begann er. „Weisst du noch was ich dir über das Bild hier und das im ersten Stock erzählt hab?”
  „Ja.”, antwortete Yu. „Du hast gesagt, dass es die Legende der Guardians erzählt. Diese sollen die Menschen früher vor Dämonen beschützt haben. Aber was hat das mit dem Vorfall von heute Abend zu tun?”
  „Das ist nicht nur eine Legende. Es ist die Wahrheit. Shui und ich wir sind vom Volk der Guardians. Das Monster, das dich angegriffen hat, war ein Dämon.
  Unsere Aufgabe ist es, diese Dämonen aufzuspüren und sie unschädlich zu machen, bevor sie ernsten Schaden anrichten.”
  „Aber wieso? Wieso seid ihr Guardians? Wie ist es dazu gekommen?”, warf Yu ein.
  „Guardians sind wir schon seit Geburt an. Unser Vater war ein Guardian und unsere Mutter auch. Auch in deinen Adern fliesst das Blut der Guardians, wenn auch nicht so stark.”
  „Was meinst du damit?”
  „Das ist so Yu. Wir haben nicht die selbe Mutter. Unsere Mutter starb drei Jahre nach Shuis Geburt an einer schweren Krankheit. Kurz darauf verliebte sich unser Vater in eine Erdenfrau namens Mika, deine Mutter. Du bist also nur zur Hälfte ein Guardian.”
  Yu sass reglos da. „Du, Ri.”, setzte er an. „Warum haben wir nach dem Tod unserer Eltern nicht von Anfang an zusammengelebt?”
  Ri und Shui sahen sich an. Ri nickte und Shui erwiderte ebenfalls mit einem Kopfnicken.
  „Ich möchte dir die ganze Geschichte von Anfangahn erzählen.” Begann Ri nach kurzem.
  „Wie du weisst, bekämpfen die Guardians die Dämonen seit je her. Die Dämonen haben oft versucht, die Macht über die Erde an sich zu reissen. Bis dahin ist es den Guardians immer wieder gelungen sie zu stoppen. Soweit kennst du die Geschichte ja.
  Die Aufgabe der Guardians ist es, die Menschen vor den Dämonen zu beschützen und die Dämonen einzufangen und zu vernichten. Zu diesem Zweck leben die Guardians überall in der Welt. Unser Vater war einer der Besten. Er hatte ein Gespür für Dämonen. Er konnte sie problemlos aufspüren sogar im Umkreis von mehreren Meilen. Er hatte daher viele Feinde.
  In den zwei Jahren vor seinem Tot war er einem sehr mächtigen Feind auf der Spur. Ein Verräter in unseren eigenen Reihen. Er war ihnen wohl dicht auf der Spur. Jedenfalls haben sie Vater und Mika ermordet.”
  Ris Stimme war immer leiser geworden und nun versagte sie ihm komplett. Yu konnte nicht glauben was er da hörte. Seine Eltern waren also ermordet worden. Und all die Jahre hatte er geglaubt, dass sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien.
  „Sie wollten es damals wohl wie einen Unfall aussehen lassen.”, sagte Shui.
  „Jedenfalls hatten sie ihre Wohnung in Brand gesteckt. Währe Ri nicht gewesen, dann würdest du nicht mehr leben, Yu. Er war damals zu ihrer Wohnung gegangen. Für unsere Eltern konnte er nichts mehr tun aber er konnte dich gerade noch aus dem Feuer retten.”
  „Und diese Idioten vom Rat wussten nichts besseres als uns auseinander zureissen.”, sagte Ri mit zornbebender Stimme. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Seine Miene war starr und sein Körper verkrampfte sich.
  „Da standen wir. Drei kleine Kinder, allein. Wir hatten nur noch uns. Die haben damals doch nur einen Angriff gefürchtet.
  Also haben sie behauptet, dass das Feuer ein Unfall gewesen sei und dass wir alle dabei umgekommen sind. Sie haben uns getrennt und einfach geleugnet, dass wir Brüder sind.
  Man hat uns in verschiedene Familien gebracht und unsere Erinnerungen gelöscht.
  Du kamst zu Ken weil Mika und unser Vater gewollt haben, dass er auf dich aufpasst falls ihnen etwas zustösst. Ich wuchs in einem Tempel bei einem Priester und seiner Familie auf und Shui kam zu einer Familie auf dem Land. Diese Familien waren Guardians. Du solltest allerdings nie etwas von den Guardians erfahren. Wir waren übers ganze Land verteilt. Sie wollten vermeiden, dass wir uns durch Zufall wieder sahen.”
  „Wie habt ihr zwei eigentlich wieder zusammengefunden?”, fragte Yu neugierig.
  „Oh, das ist eine witzige Geschichte.”, sagte Shui ganz verzückt und sah zu Ri. Nach seiner Miene zu urteilen, fand er die Geschichte allerdings nicht so Witzig.
  „Das war vor fünf Jahren als ich in deinem Alter war. Ich war auf Klassenfahrt in der Gegend wo Ri aufgewachsen war. Er war dort gerade im Uhrlaub bei seiner Adoptivfamilie.
  Ich war zu der Zeit ein richtiger Roadie. Ich hatte nur Schwachsinn im Kopf. Es gab keine Regel die ich nicht schon irgendwann mal gebrochen hatte. Wie auch immer. Eines Abends war mir und meinen Freunden langweilig. Da kam uns eine, wie wir meinten, gute Idee.
  Wir hatten im Dorf eine Tempelanlage gesehen. Wir wollten dort einbrechen und etwas aus dem Schrein klauen. Es sollte eine art Mutprobe werden.
  Wir schlichen uns als in der folgenden Nacht weg und zu der Tempelanlage. Wir kletterten übers Tor und schlichen uns so vorsichtig wie wir konnten zum Schrein.
  Als wir drin waren glaubten wir schon, dass wir es geschafft haben. Wir griffen uns ein schön verziertes Schwert und wollten uns davon machen, obwohl wir keine Ahnung hatten was wir damit anfangen sollten. Als wir aus dem Schrein kamen rief uns plötzlich jemand zurück. Im Schatten der grossen Eiche, die auf der Tempelanlage stand, stand eine Person. Wir konnten das Gesicht nicht erkennen weil es im Schatten war.
  Die Jungs glaubten es sei der alte Priester und meinten, sie wollen ihm eine Lektion erteilen. Sie stürmten also auf ihn los. Ich hab nicht genau gesehen was er gemacht hat aber auf einmal flogen meine Freunde an mir vorbei. Die sahen aus als hätten sie ein Gespenst gesehen und sind abgehauen. Der Typ hat gekichert und meinte, grosse Klappe und nichts dahinter. Ich war natürlich total sauer und bin kopflos auf ihn zugestürmt. Ich hatte zu der Zeit schon einige Kräfte entwickelt. Ich setzte sie ein, dann sah ich nur noch zwei rote Augen aufflammen. Eine Druckwelle erfasste mich und schleuderte mich gegen die Mauer. Dann trat der Typ aus dem Schatten. Und wer war das wohl? Ri. Ich sah ihn seit zwölf Jahren zum ersten mal. Ich habe keine Ahnung wie aber irgendwie, konnte ich mich in diesem Moment an ihn erinnern. Ich freute mich unheimlich ihn zu sehen. Er allerdings war nicht so erfreut. Er meinte, er sei von mir enttäuscht und ich sei ein Versager.
  Tja, danach hat sich bei mir alles um Hundertachtsieg Grad gedreht. Ich habe gelernt und trainiert. Ich hab meinen Abschluss geschafft und heute bin ich ein ebenso guter Guardian wie Ri.”
  „Was arbeitest du denn Shui?”, wollte Yu wissen.
  „Ich bin Polizist.”
  „In Ausbildung.”, ergänzte Ri.
  „Immerhin. Meine alten Freunde haben nicht mal ne anständige Arbeit.”
  „Du hast ja auch erst ein Tritt in den Arsch gebraucht.”
  „Ja, und dafür bin ich dir so dankbar. Ohne dich währ ich genauso ein Loser wie meine ehemaligen Freunde.”
  Shui stürzte sich auf Ri und umarmte ihn. Shui drückte Ri so fest, dass er diesen beinahe zerquetschte. Ri verzog das Gesicht und versuchte Shui wegzustossen.
  „Bist du noch zu retten?!”, schrie Ri, der halb vom Sofa gerutscht war. „Du bist schlimmer als ein Klammeraffe!”
  Bei dem Anblick wie Ri versuchte Shui abzustreifen musste Yu einfach lachen. Es sah fast wie ein kleiner Ringkampf aus. Als Ri sich endlich aus Shuis Umklammerung befreit hatte, war er vollkommen verwuschelt.
  „Sagt mal,”, sagte Yu nachdem sich der Trubel gelegt hatte, „Wie war das bei mir? Wie habt ihr mich gefunden?”
  „Das geht allein auf Ris Kappe.”, sagte Shui. „Ich hab von all dem erst erfahren als du hier angekommen bist.”
  „Wie sagt man so schön?”, meinte Ri. „Wer suchet, der findet.”
  „Wer suchet, der findet?”, wiederholte Yu. „Soll das heissen, dass du nach mir gesucht hast?”
  „Genau das.”, antwortete Ri mit einem Lächeln. „Ich habe euch beide gesucht und gefunden.”
  „Du hast auch nach mir gesucht?”, rief Shui erstaunt.
  „Natürlich. Wenn ich etwas mache, dann mach ich es gleich richtig.”
  „Aber wie und wie hast du uns gefunden?”
  „Berufsgeheimnis.”

Mehr war aus Ri, im Moment, nicht raus zu kriegen. Yu sollte aber mit der Zeit mehr darüber erfahren. Yu sah im Zimmer umher. Da fiel sein Blick auf das Schwert in seiner mit rotem Leder bespannten Scheide, das am Coachtisch lehnte. Yu hatte damals das Gefühl gehabt, dass eine Energie von diesem Schwert ausging. Eine Energie, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Jetzt fühlte er es auch und er hatte das Gefühl, dass es noch viel stärker geworden war als beim ersten mal.
  „Das Schwert.”, wisperte Yu ohne den Blick vom Schwert abzuwenden.
  Ris Blick wanderte ebenfalls zum Schwert. Er beugte sich nach vorn und hob es langsam hoch. Ri legte seine Hand um den Griff des Schwertes und zog es mit einem Ruck aus der Scheide. Aus der Klinge schlugen plötzlich helle Flamen. Yu zuckte zusammen.
  „Fireblade”, sagte Ri kühl.
  Der Raum wurde von einer seltsamen, gewaltigen Energie durchflutet, erfüllt von einer angenehmen Wärme. Das Schwert warf ein komisches rotoranges licht in den Raum. Yu konnte fühlen wie die Kraft durch jede Faser seines Körpers drang.
  „Dies ist mein Schwert”, begann Ri. „Jeder Guardian bekommt ein Schwert, das für ihn geschmiedet wird. Dieses Schwert enthält einen Teil seiner Kraft. Das Schwert verletzt nie seinen eigenen Meister und kein Anderer ist in der Lage es zu benutzen. Shui besitzt auch ein Schwert. Rainstorm.”
  Yu starrte wie gebannt auf das Schwert in Ris Hand. Die Flammen erloschen bis die Klinge nur noch glühte. Shui zog ebenfalls sein Schwert aus der Scheide. Der Stahl der Klinge blitzte. Anders als das von Ri wirkte Shuis Schwert kalt und geschmeidig und es schien von eine Art Nebel umgeben zu sein. Es war eindeutig das Schwert, mit dem er den Dämon vorhin erschlagen hatte.
  Ri drehte sein Schwert und reichte es, mit dem Griff voran, zu Yu hinüber. Shui tat es ihm gleich und hielt Yu ebenfalls den Griff seines Schwertes entgegen. Yu sah die Beiden verwundert an. Ri sah entschlossen aus aber Shuis Augen waren glasig und Yu glaubte sogar eine Spur Angst in ihnen zu erkennen. Seine Hand, die Yu den Schwertgriff entgegen hielt schien zu zittern. Yu sah zurück zu Ri. Dieser bedeutete ihm mit einem leichten Kopfnicken, nach den Schwertern zu greifen. Yu zögerte, aber dann fasste er sich ein Herz und griff entschlossen nach den beiden Schwertern.
  Als sich Yus Finger um die Griffe der Schwerter schlossen, floss urplötzlich eine unheimlich starke Energie in seinen Körper. Der Griff von Ris Schwert wurde Warm. Die Wärme kroch seinen rechten Arm hoch und breitete sich langsam in seinem Körper aus. Von Shuis Schwert begann sich ein kaltes Gefühl auszubreiten. Es war als wenn ein Blitz durch Yus Körper schiessen würde. Wärme und Kälte schienen sich in Yus Körper zu einem Sturm zusammenzuschliessen.
  Yus Herz begann so heftig zu schlagen, dass es schmerzhaft gegen die Rippen schlug. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, er konnte kaum noch atmen. Yu wollte schreien aber aus seiner Kehle drang nur ein leises Keuchen. Ein feiner Nebelschleier trat vor seine Augen und nahm ihm die Sicht.
  Panik ergriff Yu. Er wollte die Schwerter zur Seite werfen aber er konnte nicht. Seine Hände schlossen sich krampfhaft um die Griffe der Schwerter und gehorchten ihm kein Bisschen mehr. Ein wahnsinniger Druck und eine unerträgliche Hitze entwickelten sich in seiner Brust und schwollen rasch an. Yus Brust schmerzte extrem. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Als Yu schon glaubte ersticken zu müssen, klang der Druck auf einmal ab und verschwand sofort.
  Yu fühlte, wie er nach hinten kippte und zu Boden fiel. Sein Kopf schlug auf den Teppich am Boden. Er hörte ein leises Klirren der Schwerter, die ebenfalls zu Boden fielen. Yu hatte die Augen zugekniffen. Er lag regungslos auf dem Rücken. Yu atmete ruckartig. Seine Lungen brannten, sein Herz pochte in seiner Brust wie ein Vorschlaghammer, seine Rippen und sein Kopf schmerzten.
  Yu hörte, wie jemand seinen Namen rief. Langsam öffnete er die Augen. Ri und Shui hatten sich über ihn gebeugt. Yu liess die Schwerter los, welche er immer noch umklammert gehalten hatte und richtete sich rasch auf. Ihm wurde schwindelig. Er taumelte leicht. Ri legte seinen Arm um Yu, damit er sich etwas beruhigen konnte.
  „Was... was war... das denn?”, stotterte er schwer atmend.
  Die drei standen auf. Yu kam gefährlich ins Schwanken. Er griff sich an den Kopf. Er versuchte sich an Ris Schulter festzuhalten aber dazu reichte seine Kraft nicht mehr. Yu brach in Ris Armen zusammen.
  „Was ist passiert Ri?”, rief Shui entsetzt. „Ist etwas schief gelaufen? Was ist mit Yu?”
  „Es ist alles in Ordnung.”, sagte Ri beruhigend. „Ich habe dieser Reaktion schon erwartet. Er ist nur erschöpft.”
  „Was meinst du, sollen wir tun Ri? So etwas wie heute wird vielleicht noch öfter passieren.”
  „Mit Sicherheit.”
  „Also? Was schlägst du vor sollen wir tun?”
  „Wir müssen ihm beibringen seine Kräfte zu nutzen und sich zu verteidigen.”
  Beide schwiegen. Ri hob Yu sanft auf und trug ihn nach oben in sein Zimmer. Ri liess sich nichts anmerken aber er war schon etwas beunruhigt. Eins war für ihn aber sicher. Er würde seine beiden Brüder um jeden Preis beschützen. Und niemand würde sie je wieder trennen.

Der neue Tag brach ruhig und unschuldig an. Die Sonne erhob sich hinter dem Horizont und tauchte die Strassen und Häuser in sanftes Licht. Keiner ahnte, was für ein Geheimnis sich hinter den Türen eines der malerischen Häuser verbarg.
  Eine leichte Brise wehte durch das offen stehende Fenster in Yus Zimmer. Yu öffnete die Augen. Er blinzelte und hob die Hand um seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht abzuschirmen.
  Langsam kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Der Angriff dieses Monsters. Ri und Shui die ihn gerettet hatten. Ihre Flügel. Die Geschichte und die Schwerter. Richtig die Schwerter. Ri und Shui hatten ihm ihre Schwerter gegeben. Als er sie berührt hatte, hatte er plötzlich so ein eigenartiges Gefühl gehabt. Dann war er ohnmächtig geworden. Das war das letzte woran er sich erinnern konnte.
  Yu starrte an die Zimmerdecke. Er versuchte sich zu erklären was geschehen war. Vergebens. Er kam zu keiner plausiblen Erklärung. Schliesslich entschloss er sich, aufzustehen und nach unten zu gehen. Vielleicht konnte ihm Ri ja eine Antwort darauf geben.
  Langsam, fast wie in Zeitlupe richtete er sich auf stieg aus dem Bett und huschte aus dem Zimmer. Seine Füsse glitten fast geräuschlos über den Fussboden und die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
  Ri sass mit Shui am Esstisch. Als sie hinter sich das Geräusch der Schiebetür hörten, drehten sich beide um und sahen Yu an. Yu ging wortlos zu ihnen hinüber und setzte sich auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches.
  „Wie geht es dir heute?”, fragte Ri. Yu sah ihn an. Ri lächelte sanft.
  „Geht so.”, sagte Yu achselzuckend. „Bin noch müde.”
  „Das ist normal.”
  „Normal für was?”
  Yu liess Ri gar nicht erst zu Wort kommen.
  „Was ist gestern mit mir passiert? Was war das? Warum haben die Schwerter geglüht und warum bin ich ohnmächtig geworden?”
  Ri kratzte sich verlegen am Kopf.
  „Nun, du hast deine Kräfte nie benutz.”, begann Ri.
  „in der Zeit sind sie vermutlich verkümmert. Wir mussten sie erst wieder wecken.”
  „Wecken?! Auf so eine Weise?!”
  „Ja, es war ein bisschen drastisch aber leider blieb uns keine andere Möglichkeit. Jetzt wo deine Kräfte geweckt sind, kannst du sie trainieren.”
  „Trainieren?”
  „Ja, was hast du den gedacht?”, sagte Shui.
  „du hast deine Kräfte zwar von Geburt an aber ohne Training sind sie nichts wert.”
  „Allerdings...”, murmelte Ri nebenbei.
  „Allerdings, was?”, fragte Yu.
  „Allerdings weiss ich nicht wie sich das bei dir verhält.”
  „Wieso?”
  „Weil du ja eigentlich nur zur Hälfte ein Guardian bist. Wir wissen nicht wie sich das mit deinem Menschenblut verhält. Ob deine normalsterbliche Seite deine Kräfte beeinträchtigen oder sie gar blockieren. Das gilt es jetzt herauszufinden.”
  Yu senkte seinen Blick. Er versuchte zu verstehen, was Ri und Shui ihm alles über ihn und sich erzählt hatten. Ri legte seine Hand auf Yus eigene. Yu hob seinen Blick und sah Ri in die Augen. Er lächelte.
  „Keine Sorge.”, sagte Ri sanft. „Das hört sich jetzt alles viel komplizierter an als es ist. Das stehen wir gemeinsam durch.”
  „Logo.”, warf Shui ein. „Schliesslich sind wir doch Brüder und nach all der Zeit müssen wir doch zusammenhalten.”
  Yus Mundwinkel zogen sich nach oben. Sein Blick viel zufällig auf die Uhr die hinter Ri an der Wand hing. Das Lächeln in seinem Gesicht gefror.
  „Ich komme zu spät zur Schule.”, rief er entsetzt und sprang von seinem Stuhl auf.
  „Ganz ruhig.”, sagte Ri beruhigend. „Ich hab dich heute in der Schule krank gemeldet. So können wir uns heute ganz in Ruhe dem Training widmen.”
  „Komm schon.”, sagte Shui. „Setz dich und iss erst mal was.”
  Yu setzte sich wider hin. Er schwieg. Ri und Shui unterhielten sich über irgend etwas anderes. Yu hörte nur am Rande zu.

Nach einer Weile stand Ri auf und ging zur Tür hinüber. Er winkte Yu zu sich. Langsam ging Yu zu Ri hinüber. Shui ging ihm nach.
  Ri führte Yu über den Flur in seinen Trainingsraum. Als Yu durch die Tür trat, hatte er das Gefühl, dass der Raum von einer unheimlich starken Energie erfüllt war. Ri stand in der Mitte des Raumes und wandte sich Yu zu.
  „Also.”, begann Ri. „Zuerst musst du lernen, wie du dich verteidigst. Auch ohne diene Kräfte.”
  Yu Verstand gar nichts, Ri winkte Shui zu sich. Dieser stellte sich gerade vor Ri. Er ballte die Hand zu einer Faust, zog den Arm zurück, zielte auf Ris Kopf und Schlug zu.
  Ri tauchte unter Shuis Faust weg, beugte sich nach vorn und schlug Shui in den Magen. Ri stoppte allerdings vor Shuis Körper, um ihn nicht zu verletzen. Ri drehte sich zu Yu um.
  „Hast du verstanden?”, fragte Ri. Yu nickte.
  „Dann bist du jetzt dran.”
  Shui trat vor Yu. Yu schluckte. Shui wiederholte den Vorgang. Yu versuchte unter dem Schlag wegzutauchen wie Ri. Er war aber nicht schnell genug. Shuis Faust streifte ihn noch am Kopf.
  „Alles in Ordnung?”, fragt Shui.
  „Ja, alles klar.”, antwortete Yu.
  Beim zweiten Mal klappte es ohne Probleme. Ri zeigte Yu noch ein paar weitere Abwehrgriffe und machte ihm klar, dass er auf jeden Fall erst mal ausweichen muss und erst dann angreifen soll.
  „Also, das war schon mal ganz gut.”, sagte Ri nach einer Weile.
  „Jetzt kommen wir zu etwas anderem. Was willst du machen, wenn dich jemand mit einer Waffe angreift?”
  Yu verstand nichts. Er sah Ri an und zuckte mit den Achseln. Ri schüttelte den Kopf. Er ging zu der Truhe an der Wand hinüber, nahm eines der Holzschwerter heraus und warf es Shui zu. Shui positionierte sich etwa fünf Schritte von Ri entfernt. Ri nickte ihm zu. Shui packte das Schwert mit beiden Händen und stürmte auf Ri los.
  Ri wich dem Schwert aus, so wie vorhin. Er schlug Shuis Arm von sich weg und verdrehte ihm den Arm.
  „Das ist eine Möglichkeit.”, sagte Ri.
  „Es gibt aber eine effektivere Methode.”
  Shui stellte sich wieder etwa fünf Schritte von Ri weg und umschlang den Schwertgriff fest mit beiden Händen. Sein Gesicht war angespannt. Er wusste genau, was ihn erwartete.
  Ri nickte erneut. Shui atmete tief durch und stürmte dann wieder los.
  Ri ballte die Hände wieder zu Fäusten und kreuzte die Arme vor der Brust. Seine Augen verengten sich. Shui hob das Schwert und schlug es so fest er konnte auf Ri hinunter. Ris Augen flammten auf einmal hell auf. Das Schwert prallte von Ri ab und Shui wurde zurückgeschleudert.
  Yu stand der Mund offen. Shui rappelte sich wieder auf. Yu war regelrecht geschockt. Der ganze Raum war mit einem Schlag mit einer bedrohlichen, undurchdringlichen Energie erfüllt. Yu spürte am ganzen Körper ein unheimliches prickeln.
  Langsam flaute die Energie wieder ab.
  „Was... was war den das?”, rief Yu in heller Aufregung.
  „das war eine kleine Demonstration meiner Kräfte.”, sagte Ri.
  „Das gehört bei einem Guardian zur Grundausbildung. Um seine Kräfte trainieren und einsetzen zu können, muss man körperlich und geistig in Form sein.
  Das Wichtigste bei der Sache ist, dass du mit deinem Kopf, deinem Verstand und deinem Herz bei der Sache bist. Du musst dich voll konzentrieren und darfst dich durch nichts auch nur einen Augenblick lang ablenken lassen.”
  Ri sah Yu ernst an. Yu war völlig eingeschüchtert. Er nickte nur, als Ri mit ihm sprach. Shui hatte sich unter dem Fenster auf den Boden gesetzt. Er hatte eine kleine Schramme im Gesicht. Das Schwert hatte er gegen seine Schulter gelehnt. Er war ein bisschen ausser Puste. Er war es ja gewöhnt von Ri beim Training an die Wand geworfen zu werden. Von dort hörte er Ri zu, wie er versuchte Yu die Abwehr zu erklären.
  „Jetzt versuch du es.”, sagte Ri schliesslich zu Yu.
  Shui war mit einem Schlag wieder voll da. Er sprang auf und hastete zu Ri hinüber.
  „Ist das dein Ernst?!”, fragte Shui aufgebracht.
  „Das kannst du Yu doch noch nicht zumuten. Willst du nicht mit etwas leichterem anfangen?”
  „Nein.”, sagte Ri bestimmt.
  „Das ist schon das Leichteste. Wir haben nicht viel Zeit und Yu muss jetzt lernen sich zu verteidigen.”
  Ri packte Yu am Arm und zog ihn in die Mitte des Raumes. Yus Beine zitterten. Ri stellte sich hinter Yu und drehte ihn in Shuis Richtung. In dessen Augen konnte man deutlich sehen, dass er damit nicht einverstanden war.
  „Hör mir gut zu Yu.”, sagte Ri unbeirrt.
  „Also bei diesem Manöver geht es darum dienen Körper vor einem Angriff zu schützen. Also ist es wichtig, dass du mit deinem ganzen Körper auf Verteidigung gehst. Du musst dir im klaren sein was du tust und was du willst.”
  Ri legte seine Hände von hinten an Yus Arme. Er packte Yus Handgelenke und liess ihn die Arme vor der Brust verschränken. Yu blickte nervös herum. Shui stellte sich etwa fünf Schritte von ihm entfernt auf und umschloss den Griff des Schwertes fest mit beiden Händen. Seine Hände zitterten leicht.
  „Jetzt konzentriere dich.”, flüsterte Ri Yu ins Ohr.
  „Konzentriere dich ganz auf Shui. Versuche seine Aura zu erfühlen. Versuche seine Bewegungen vorauszuahnen. Sammle deine ganze Kraft um dich, dann geht alles von allein.”
  Ri klopfte Yu aufmunternd auf die Schulter. es bewirkte aber eher das Gegenteil. Yus Beine begannen zu zittern. Yu versuchte aber trotzdem zu tun, was Ri ihm gerade gesagt hatte. Angestrengt versuchte er sich auf Shui zu Konzentrieren. Ri gab Shui ein Zeichen.
  Shui hob das Schwert. Es zitterte leicht. Shui trat einen Schritt auf Yu zu. Dann wurde er schneller. Yu sah nur noch das Holzschwert auf sich zukommen. Er hob die Arm vor den Kopf und schloss die Augen. Dann spürte er wie das Schwert schmerzhaft gegen seinen Kopf schlug. Yu stolperte und fiel zu Boden.
  „Yu, Yu bist du in Ordnung?”, hörte Yu Shui rufen.
  Yu öffnete die Augen. Er lag am Boden. Shui hatte sich neben ihn gekniet. Ri stand über Yu. Yu richtete sich auf.
  „Tut mir Leid.”, sagte Yu. „Es hat wohl nicht geklappt.”
  „Allerdings.”, sagte Ri und machte ein ernstes Gesicht.
  „Du hast diene Arme bewegt und die Augen geschlossen. Dabei habe ich dir doch gerade eben gesagt, dass die nie den Sichtkontakt zu deinem Gegner verlieren darfst. Zudem hast du dich viel zu früh bewegt. Du darfst dich erst im letzten Augenblick bewegen. Den sonst kann dein Gegner deine Bewegung vorausahnen und darauf reagieren.”
  Ri zog Yu auf die Beine.
  „Noch mal und diesmal denk dran, nicht Bewegen und die Augen immer offen halten und konzentriere dich auf deinen Gegner, also auf Shui.”
  Yu nickte. Shui ging, wenn auch etwas wiederwillig, in Position. Yu hob wieder die Arme und kreuzte sie vor der Brust. Yu nickte um Shui zu zeigen, dass er bereit war.
  Sie versuchten es wieder und wieder. Jeder Versuch schlug fehl. Yu machte immer wieder den selben Fehler indem er die Augen schloss oder versuchte dem Schwert auszuweichen. Shuis Hände begannen mit jedem Mal mehr zu zittern, so dass ihm das Schwert fast aus der hand rutschte, was die Verletzungsgefahr für Yu noch erhöhte. Ri schüttelte nur immer wieder den Kopf. Er versuchte Yu immer wieder klar zu machen, dass er sich nicht bewegen dürfe und dass er die Augen nicht schliessen dürfe. Es hatte allerdings keinen Sinn. Yu machte den gleichen Fehler nämlich immer wieder.
  Nach stundenlangem Training und zahlreichen missglückten Versuchen, liess sich Yu erschöpft zu Boden sinken. Er war völlig zerschlagen. Seine Arme taten ihm weh und er hatte einige Kratzer an den Armen und am Kopf. Ri seufzte.
  „Ich glaube, das hat heute keinen Sinn mehr.”, sagte Ri mit etwas enttäuschter Mine.
  „Na ja, vielleicht war es doch etwas zu schwer für den Anfang. Ich häts eigentlich wissen müssen.”
  „Wie? Was wissen?”, fragte Yu, der sich gerade die schmerzenden Arme rieb.
  „Na, dass du doch noch nicht so weit bist. Ich dachte, dass du stark genug seist um deine Kräfte zu trainieren aber ich hab mich wohl geirrt. Das war ja eigentlich auch zu erwarten bei einem Halbblüter.”
  Die letzten Worte hatte Ri nur ganz leise geflüstert aber Yu hatte es trotz dem verstanden.
  „Ich will es noch einmal versuchen.”, sagte Yu bestimmt.
  „Bist du sicher?”, fragte Ri mit angenehm überraschter Mine. Yu nickte nur.
  „Also gut. Dan eben noch ein letztes Mal.”
  Keiner der beiden achtete auf Shuis erschrockenen Gesichtsausdruck. Shui schwante übles. Er befürchtete, dass er Yu am Ende noch ernsthaft verletzen könnte. Noch einen Hieb mit dem Schwert und Yu würde zu Boden gehen wie ein nasser Sack. Ri schien sich da allerdings keine Gedanken deswegen zu machen. Shui räusperte sich laut. Als Ri nicht darauf reagierte, trat Shui hinter ihn und tippte ihm auf die Schulter. Ri drehte sich um.
  „Bist du wahnsinnig?!”, rief Shui flüsternd.
  „Das kannst du doch nicht machen. Noch einen Schlag und Yu ist weg. Willst du ihn umbringen?!”
  „Eigentlich nicht.”, sagte Ri mit Unschuldsmine.
  „Aber wenn er`s schon von allein will, dann sollten wir ihn doch nicht aufhalten. Oder was meinst du?”
  Shui schwieg. Wortlos nahm er wieder seine Position ein. Wieder fünf Schritte von Yu entfernt. Yu war schon bereit. Die Arme vor der Brust gekreuzt stand er entschlossen da und wartete. Ri, der hinter Yu stand, nickte Shui zu. Shui hob sein Schwert und startete erneut einen Angriff.
  Man sah es Ri nicht an aber er war in dem Moment ziemlich nervös. Er kreuzte hinter dem Rücken heimlich die Finger und hoffte inständig, dass sein Plan jetzt aufging.
  Yu strengte sich an. Mühsam versuchte er die Augen offen zu halten und sich auf keinen Fall zu bewegen. Seine Augen waren starr auf Shui gerichtet.
  Auf einmal wurde alles still. Yu war, als wenn alles in Zeitlupe ablaufen würde. Er sah deutlich wie Shui Schritt für Schritt näher kam. Jede seiner Bewegungen war deutlich zu erkennen. Als Shui das Schwert hob um zum Schlag auszuholen, spürte Yu, wie sein Körper mit einem Mal heiss wurde. Yu spürte eine enorme Hitze in seiner Brust die rasch anschwoll. Shui schlug das Schwert auf Yu hinunter. Das Schwert wurde mitten im Schlag abgefangen. Einen Moment blieb es in der Luft, zwei Zentimeter von Yus Kopf entfernt, schweben. Es gab einen grellen Lichtblitz. Das Schwert schlug zurück und dem erstaunten Shui gegen den Kopf. Kurz darauf folgte eine gewaltige Druckwelle, die Shui von den Füssen riss und ihn an die Wand warf.
  Yus Körper schien zu glühen. Er war total ausgepowert. Er atmete rasselnd. Seine Arme und Beine schmerzten. Sein Kopf pochte. Seine Augen starrten auf den Boden. In seinem Gehirn sirrte noch alles. Er hatte es geschafft. Er hatte es tatsächlich geschafft Shuis Angriff abzuwehren. Noch immer verharrte er in der selben Position und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt.
  Zwei Hände legten sich von hinten auf Yus Schultern. Yu drehte sich um. Hinter ihm stand Ri. Ri lächelte. Yu wurde ruhiger. Von der anderen Seite des Raumes war ein leises ächzen zu hören. Shui sass an der Wand auf dem Boden. Das Schwert hatte er wieder gegen die Schulter gelehnt. Auch er lächelte.
  „Gut gemacht.”, sagte Ri
  „Ja, mich hat′s regelrecht umgehauen.”, sagte Shui lachend.
  „Hab ich′s wirklich geschafft?”, hauchte Yu und sank auf die Knie.
  „Ja, allerdings.”, sagte Ri, immer noch lächelnd.
  „Ich hatte schon befürchtet, dass der Schuss doch noch nach hinten los geht. Gut dass ich mich doch geirrt hab.”
  Shuis Augen weiteten sich plötzlich.
  „Heisst das etwa, dass du das so geplant hast?”, fragte er überrascht und mit einer Spur von ärger in der Stimme.
  „Natürlich, ich musste Yus Kräfte halt irgendwie mal ein bisschen anstupsen. Tja und da das die einfachste Technik ist, die ich kenne und die gleichzeitig den nötigen Effekt hat, war für mich klar, was zu tun ist.”
  Ri grinste. Shui sah aus, als ob er Ri in diesem Moment an die Gurgel springen könnte. Schliesslich hatte er hier die Blessuren davon getragen und Ri hatte nur da gestanden und zugesehen.
  Ri wandte sich wieder Yu zu, der mittlerweile schon fast am einschlafen war.
  „Yu, sag mir, was du vorhin gefühlt hast.”, sagte Ri nun wieder ernster. Yu dachte nach.
  „Mein Körper wurde heiss.”, sagte Yu nach kurzem überlegen. „Die Hitze staute sich in meiner Brust und es begann sich ein Druck in mir aufzubauen. Es war als wenn, etwas aus mir raus wollte. Irgendwas gewaltiges. Und dann, ist es explodiert. Es ging wie von allein.”
  Yu sah Ri ratlos an. Ri schmunzelte und beugte sich zu Yu hinunter.
  „Dann hast du es richtig gemacht”, sagte er. „Merk dir dieses Gefühl gut. Das sind deine Kräfte, die sich aufbauen und dann freigesetzt werden. Und je mehr du trainierst, desto schneller geht der Aufbau, bis er schliesslich gar nicht mehr wahrzunehmen ist.”
  Yu sah Ri nur an und sagte kein Wort. Shui sagte schon lange nichts mehr.
  „So ich denke, das reicht für heute”, sagte Ri und verliess den Trainingsraum.
  Yu sah Shui an. Dieser hatte die Augen geschlossen und sich gegen die Wand gelehnt. Yu kroch auf Shui zu. Er hob die Hand um ihn anzustupsen. Yu hielt inne und dachte, dass er ihn wohl doch besser in ruhe lassen sollte.
  Nach dem Abendessen ging Yu ohne viele Worte in sein Zimmer und legte sich ins Bett. Die Laternen draussen auf der Strasse warfen die Schatten der Bäume, die sich im Wind bewegten an die Zimmerdecke. Yu beobachtete die Schatten. Wie sie sich so bewegten sah es fast so aus als würden sie tanzen.
  Yu dachte an den Moment indem es ihm gelungen war, seine Kräfte zu aktivieren. Er dachte an das Gefühl, welches er in diesem Moment gehabt hatte. Er hatte diese unglaubliche Kraft noch nie zuvor gefühlt. Diese Energie die durch seine Adern pulsierte. Die Wärme in seiner Brust. Für einen kurzen Augenblick hatte Yu das Gefühl gehabt, dass ihn niemand stoppen könne. Yu fragte sich, ob es ihm das nächste Mal wieder gelingen würde. Er konnte nicht länger darüber nachdenken, den in diesem Moment war Yu eingeschlafen.


  Am nächsten Morgen wurde Yu weder durch die Morgensonne, noch durch Vogelgezwitscher geweckt. Sondern von Ri, der ihn äusserst unsanft weckte. Ri hatte Yu, der sich ganz in Kissen und Bettdecke vergraben hatte, an der Schulter gepackt und rüttelte ihn wach.
  „Wach auf, du Faulpelz!”, sagte Ri unfreundlich und zog ihm die Bettdecke weg.
  Yu stöhnte nur leise, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. „Es ist doch noch so früh.”, murmelte Yu und schlief schon fast wieder ein.
  Ri wurde wütend. Er holte tief Luft und schrie dann, so laut er konnte: „Raus aus dem Bett, du Schlaftablette!!!”
  Yu sass mit einem Schlag kerzengerade im Bett.
  „Was is n′ los.”, nuschelte Yu und blickte auf den Wecker auf seinem Nachttisch.
  „Es ist doch erst drei Uhr morgens. Was soll der Aufstand?”
  Yu sah Ri etwas genauer an. Seine Augen weiteten sich.
  Ri trug einen roten kimonoähnlichen Mantel, der mit goldenen Flammen verziert war. An einem breiten Ledergürtel um Ris Hüften hing Fireblade.
  „Willst du auf ne′ Kostümparty?”, fragte Yu und versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Ri fand das aber gar nicht witzig. Sein Gesicht war ernst. Ri hielt etwas in der Hand, das aussah wie ein Hemd oder so was ähnliches. Ri warf es Yu hin.
  „Zieh das an.”, sagte er knapp und wandte sich zum gehen um.
  „Was soll das ? Was ist los?”, fragte Yu, der immer noch völlig verdattert auf dem Bett sass.
  „Beeil dich und komm runter.”
  Yu hob das Ding, das Ri ihm gegeben hatte hoch, um es genauer betrachten zu können. Es war eine Art Kimonomantel wie Ri ihn trug, nur schwarz und ohne irgendwelche Muster.
  Yu fragte sich wozu er das Ding brauchen würde.
  Er stieg aus dem Bett, ging zum Schrank und holte ohne genau nachzuschauen seine Klamotten raus. Er zog sich Jeans und T-Shirt über und griff dann nach dem Kimonomantel. Yu schlüpfte in die ärmel. Dan ging Yu noch mal zu seinem Nachttisch hinüber. Er griff nach seinem Talisman und legte sich die Kette um den Hals.
  „Was machst du so lange?!”, rief Ri von unten.
  „Mach endlich dass du runter kommst!!”
  Yu war innerhalb von zwanzig Sekunden aus seinem Zimmer raus, die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer gerannt, wo Ri und Shui auf ihn warteten. Yu kam schlitternd zum stehen.
  „Wurde auch Zeit!”, schnauzte Ri.
  Yu sah Shui an. Shui trug ebenfalls einen Kimono Mantel wie Ri. Shuis Mantel war blau und hatte ein silbernes Muster, das aussah wie Wellen. Er hatte auch sein Schwert Rainstorm umgeschnallt. Ausserdem trug er einen blauen Umhang mit Kapuze um die Schultern. Seine Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden.
  „Was ist los?”, fragte Yu, der langsam genervt war.
  Shui lächelte und trat auf ihn zu.
  „Mach dir nichts aus Ri.”, sagte er sanft. „Er ist immer so, wenn wir da hin gehen.”
  „Wenn ihr wohin geht?”
  „Das erfährst du gleich.”
  Shui lächelte breit. Er knöpfte Yu den Kimono zu und richtete ihm den Kragen. Yu gähnte und rieb sich die Augen. Draussen war es noch dunkel. Shui legte seine Hand auf Yus Schulter und führte ihn zu Ri hinüber, der an der Verandatür stand und nach draussen in die Dunkelheit spähte, als wenn er etwas suchte.
  „Bereit?”, fragte Ri ohne sie anzusehen.
  „Bereit für was?”, fragte Yu schläfrig.
  „Bereit für die Schule.”
  „WAS?! Wieso Schule?! Es ist Sonntag!”
  „Das wird kein gewöhnlicher Unterricht.”, sagte Shui beschwichtigend.
  „Du hast heute Unterricht bei Meister Orion.”
  Yu sah Shui verwirrt an. Er kapierte überhaupt nichts.
  „Orion war auch schon unser Lehrer.”, sagte Ri und wandte sich den beiden zu.
  „Bei ihm wirst du die Geschichte der Guardians lernen. Und die Feinheiten der Magie.”
  „Und du wirst auch noch andere Guardians in deinem Alter kennen lernen.”, sagte Shui.
  „Dazu müssen wir in unsere Welt, also die Welt der Guardians.”
  Yu klappte der Mund auf. Er sollte also mit seinen Brüdern in ihre Welt. Die Welt der er eigentlich auch angehörte, die er aber noch nie zuvor gesehen hatte.
  „Die Luft ist rein.”, sagte Ri und warf sich einen roten Kapuzenumhang um die Schultern.
  „Gehen wir.”


  Ri trat durch die Verandatür in den dunklen Garten. Yu und Shui folgten ihm. Ein leichter Windstoss blies durch den Garten und liess die Bäume in der Dunkelheit rauschen. Yu spürte, wie der Wind ihm die Haare zerzauste. Ri blieb zwischen zwei dicht nebeneinanderstehenden Bäume stehen.
  „Was jetzt?”, fragte Yu. Shui legte einen Finger auf die Lippen und nickte in Ris Richtung. Ri stand bewegungslos da. Er hob den rechten Arm und bewegte ihn mit einer kreisenden Bewegung von links nach rechts, wie wen er etwas verwischen wollte. Zwischen den Bäumen erhob sich ein feiner Nebel. Aus dem Nebel tauchte ein steinerner Torbogen auf. Yus Augen weiteten sich. Es war, als wen er durch den Torbogen in einen anderen Raum sehen würde aber hinter dem Torbogen war nichts. Durch den Torbogen sah Yu eine weite, grüne Wiese. Die Wiese lag noch im Dunkeln, so wie hier auch. Ein Windhauch streichelte die ruhige Wiese. Das gras bog sich in einer Wellenbewegung, so dass es aussah, wie die Wellen des nächtlichen Meeres. Wie Yu so auf die dunkle Landschaft blickte, sah es aus, als wen sie hinter einer Scheibe aus Wasser liegen würde.
  Ri trat neben Yu. Er trat auf die Schwelle des Torbogens und mit einem Schritt war er hindurch. Der wasserartige Schleier verfärbte sich silbern als Ri sie berührte und wurde gleich wieder klar als er verschwunden war. Yu sah durch den Torbogen. Er konnte Ri nirgends auf der anderen Seite sehen. Yu sah zu Shui. Shui lächelte nur, legte seine Hand auf Yus Schulter und gab ihm einen leichten Schubs. Yu stolperte über die Schwelle und durch den Wasserschleier. Es fühlte sich an, wie wen er durch Nebel laufen würde. Schon nach ein paar Sekunden, war er auf der anderen Seite. Vor ihm stand Ri. Ris Gesicht lag im Dunkeln. Yu konnte Ris Gesichtsausdruck nicht erkennen. In diesem Moment trat Shui hinter Yu durch den Torbogen. Der Torbogen wurde Wieder von Nebel umhüllt und verschwand.
  „Willkommen Zuhause!”, rief Shui vergnügt und streckte sich.
  „Ist lange her, was Ri?”
  „Hmh.” Das war das Einzige, was Ri dazu sagte.
  Hinter dem Horizont ging die Sonne auf und tauchte die stille Wiese in ein goldenes Licht. Die Morgensonne wärmte Yus Körper. Yu schloss die Augen und liess sich ins Gras fallen. Es fühlte sich kühl und weich an und es war noch feucht vom Tau. Die Luft roch nach Gräsern und Morgentau. Yu öffnete die Augen. Ri und Shui hatten sich neben ihn gesetzt. Shui stützte sich hinten bequem auf seine Arme und betrachtete vergnügt die aufgehende Sonne. Ri hatte seinen Blick auf den Boden gerichtet. Im fahlen Morgenlicht sah Ri ziemlich blass aus. Er schien sich nicht gerade sehr darüber zu freuen hier zu sein. Shui hingegen machte einen sehr fröhlichen Eindruck. Seine Wangen glühten.
  Nach einer Weile stand Ri auf. Reckte sich kurz und zog sich die Kapuze seines Umhangs über den Kopf.
  „Gehen wir.”, sagte Ri leise.
  Auf Ris Rücken erschienen kleine weisse Flügel, die innerhalb von zwei Sekunden zu zwei riesigen Schwingen heranwuchsen. Yu staunte. Shui stupste Yu leicht an. Yu drehte sich um. Auch Shui hatte weisse Flügel auf dem Rücken. Sie waren aber ein bisschen kleiner als Ris.
  „Komm Yu, ich nem′ dich auf den Rücken.”, sagte Shui und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu ihm zu kommen.
  Yu trat zu Shui. Shui drehte sich um. Yu legte seine Arme um Shuis Schultern. Shui legte seine Hände auf Yus, die sich an seinen Schultern festklammerten. Yu kniff die Augen zu. Er spürte wie Shuis Flügel sich spannten und sich sanft bewegten. Dann verlor Yu den Boden unter den Füssen. Er klammerte sich fester an Shui. Yu fühlte, wie er leichter wurde und wie ihm der Wind sanft durchs Harr wehte.
  „Mach doch die Augen auf Yu, du verpasst ja das beste!”, rief Shui.
  Yu öffnete die Augen. Ihm blieb die Luft weg. Er flog. Yus Hände klammerten sich noch fester an Shuis Schultern. Sie flogen an schönen bauschigen Wolken vorbei. Vögel flogen neben ihnen her. Die Landschaft zog unter ihnen vorüber. Sie flogen über Wiesen, Wälder, Flüsse und Seen. Der Wind strich durch Yus Haare und liess seinen Kimono flattern.
  „Gefällte es dir?”, fragte Shui.
  „Es ist toll!”, schwärmte Yu.
  „Ich wünschte ich könnte das auch.”
  „Das wirst du auch. Bald.”
  „Du Shui, war eigentlich schon mal ein Mensch hier?”
  „Nein, noch nie. Dies ist eine Parallelwelt zu der Welt der Menschen. Die beiden Welten sind durch eine dünne aber starke grenze getrennt. Nur wir Guardians sind in der Lage diese Grenze zu überwinden.”
  „Warum leben du und Ri denn nicht hier?”
  „Für Ri ist es eben nicht wirklich seine Heimat. Unser Vater hat mit unserer Mutter auf der Erde gelebt. Ri und ich wurden Auf der Erde geboren. Ri meinte, Heimat ist dort wo man am liebsten ist. Für ihn ist das die Erde und für mich ist es dort wo meine Familie ist. Und Ri ist meine Familie. Er liebt diese Welt.”
  „Sag mal, habt ihr hier eigentlich auch Probleme, so wie wir?”
  „Was für Probleme meinst du?”
  „Na, Umweltverschmutzung, Kriminalität und so.”
  „Na ja, da wir eigentlich keine grosse Technologie haben, haben wir auch nicht so viel Umweltverschmutzung wir ihr. Und was die Kriminalität angeht. Die ist bei uns auch sehr viel niedriger. Aber es gibt halt immer ein paar Querulanten. Das einzige Problem ist, dass unsere Welt sehr viel näher an der Welt der Dämonen liegt, als die Welt der Menschen. dadurch haben wir oft Probleme mit den Dämonen. Natürlich gibt′s da auch wider Unterschiede. Du musst nämlich wissen Yu, Dämonen gibt′s schon so lange wie′s Menschen gibt. So wie sich bei den Menschen die verschiedenen Völker entwickelt haben. Haben sich auch bei den Dämonen verschiedene Völker entwickelt. Manche sind ganz harmlos und leben so wie wir auch unter Menschen. Andere sind einfach nur Querulanten. Sie machen einfach nur ärger weil sie das Chaos lieben. Zum Glück haben sie bis jetzt noch keinen grossen Schaden angerichtet. Die grösste Gefahr geht aber von den Royals aus. Die Wollen die Guardians vernichten und die Menschen versklaven um dann die Herrschaft der Erde zu übernehmen.”
  „Was wollte der Typ neulich eigentlich von mir?”
  „Ich bin mir nicht sicher. Manche Dämonen saugen den Menschen einfach ihre Energie aus. Sie haben ein Gespür dafür. Sie können die Energie um einen Menschen herum wahrnehmen. Die Energien der Menschen sind genauso verschieden, wie ihre Seelen.
  Vielleicht hatte er aber auch erkannt, dass du ein Guardian bist und dich deshalb angegriffen.”
  Shui schwieg und Yu fragte nicht weiter. Nach einer Weile rief Shui plötzlich:
  „Wir sind bald da! Da hinter dem Wald, man müsste es bald sehen!”


  Sie flogen dicht über einem Wald. Hinter den Baumwipfeln tauchte langsam eine riesige Burg auf. Sie war wunderschön. Mit vielen Türmen und Zinnen.
  So flogen über die Mauern und landeten sanft im Burghof. Im Burghof standen viele Bäume, die in er Morgensonne glänzten. Sie gingen durch das grosse Haupttor, das von zwei grossen Eschen flankiert war und traten in eine grosse Halle aus Marmor. Die halle war leer. Es gab keine Möbel oder Bilder an den Wänden. Ihre Schritt hallten an den glatten Marmorwänden wieder. Es war totenstill. Yu lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ihm war, als wenn sich eiskalte Hände auf seine Schultern legen würden. Er griff nach seinem Talisman. Im Raum zog plötzlich Nebel auf. Eine Nebelwand schob sich zwischen Yu und seine Brüder. Er wurde vom Nebel vollkommen eingehüllt. Yu bekam Panik. Er konnte weder seine Brüder noch die Halle sehen. Yu versuchte sich zu orientieren als sich plötzlich zwei Hände von hinten auf seine Schultern legten. Yu bekam einen gewaltigen Schreck. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein grosser Mann mit langen blonden Haaren, blauen Augen und einem weissen Kimono. Der Mann lächelte. Der Nebel lichtete sich.
  „Meister Orion!”, rief Shui.
  Sie standen wieder in der grossen Eingangshalle. Shui und Ri standen hinter Yu.
  „Schön euch wieder zu sehen.”, sagte der Mann mit sanfter Stimme.
  „Und das muss dann euer kleiner Bruder Yu sein.” Er machte einen Schritt auf Yu zu. Yu wich zurück und stiess mit dem Rücken gegen Ri.
  „Ja, das ist Yu.”, sagte Ri.
  „Yu, das ist uns er alter Lehrer Orion.”
  „G-guten Tag.”, stammelte Yu.
  Orion beugte sich zu Yu und legte ihm seine Hand auf den Kopf.
  „Du bist ein interessanter Bursche Yu.”, sagte Orion sanft.
  „Du bist sehr intelligent und gerissen. Du hast schon viel erlebt. Du hast schon früh in deinem Leben einen schlimmen Verlust erlitten und hast sehr oft gelitten.”
  „Woher...?”
  „Ich sehe es in deinen Augen.”
  „Orion ist sehr weise.”, sagte Shui.
  „Na ja, was soll man bei dem Alter auch anderes erwarten?”
  „Shui!”, mahnte ihn Ri.
  „Ist schon gut.”, sagte Orion.
  „Orion ist ein sehr guter Lehrer.”, sagte Ri.
  „Er hat uns das meiste beigebracht. Zu uns war er immer wie ein Vater. Er war der einzige, der sich für uns eingesetzt hatte, nachdem unsere Eltern ermordet worden waren. Er ist auch der Einzige der unser Geheimnis kennt.”
  „Unser Geheimnis?”, fragte Yu und lehnte seinen Kopf nach hinten um Ris Gesicht sehen zu können.
  „Dass wir Brüder sind.”, sagte Shui.
  „Ausser ihm, weiss es sonst keiner.”
  „Darum ist es wichtig, dass du niemandem davon erzählst.”, sagte Ri eindringlich. Yu nickte nur.
  „Wir haben noch einiges zu erledigen.”, sagte Ri zu Orion gewandt.
  „Dan geht und lasst euch nicht aufhalten.”, sagte Orion.
  „Mach keinen Unsinn Yu.”, rief Shui Yu über seine Schulter zu bevor er hinter der Burgmauer verschwand. Yu blieb unter der Tür stehen.
  „Komm Yu.”, sagte Orion und winkte ihn zu sich.

Yu folgte Orion eine Treppe hinauf. Sie gingen an mehren Räumen vorbei und stiegen mehrere Treppen hoch.
  Sie betraten eine riesige Bibliothek. Die Regale reichten bis zu der Decke und waren mit Büchern vollgestellt. An den Regalen hingen Leitern, damit man auch an die Bücher auf den höheren Ablangen ran kam. Durch grosse, hohe Fenster fiel das Sonnelicht herein und tauchte den Raum in ein angenehm warmes Licht. über eine Wendeltreppe kam man auf einen kleinen Boden, wo ebenfalls Regale voller Bücher standen. In einer Ecke der Bibliothek gab es eine Leseecke. Es standen mehrere Tische und Stühle dort. Es gab auch einige bequeme Lehnsessel und Sitzpolster.
  „Setz dich doch.”, sagte Orion
  Yu setzte sich auf ein Sitzpolster au dem Boden. Orion liess sich in einem Sessel ihm gegenüber nieder.
  „Yu ist ein schöner Name.”, sagte Orion schliesslich.
  „Weisst du, was die Feder für eine Bedeutung hat?” Yu schüttelte den Kopf.
  „Die Feder steht für Frieden und Hoffnung. Man sagt, wenn einem eine Feder zufliegt. Dan bringt sie Glück und Hoffnung mit sich. Ausserdem ist die Feder ein mächtiges Symbol in der Magie. Für den, der dir deinen Namen gegeben hat, musst du etwas ganz Besonderes sein.”
  Yu dachte nach. Für den, der ihm seinen Namen gegeben hatte, war er also etwas Besonderes. Aber war nicht für jede Mutter ihr Kind etwas Besonderes. Ob seine Mutter wohl gewusst hatte, dass dieser Name etwas besonderes war.
  „Kannten Sie meine Mutter?”, fragte Yu plötzlich.
  „Diene Mutter?”, wiederholte Orion.
  „Nein, tut mir Leid. Ich kannte deinen Vater aber deine Mutter hatte ich nur kurz kennengelernt. Warum fragst du?”
  „Ach, nur so.”
  „Ich verstehe. über deinen Vater kann man dir viel sagen aber über deine Mutter weiss man wenig. Dabei möchtest du doch gerade über sie mehr wissen. Hab ich recht?”
  Yu nickte. Es stimmte. Ri und Shui hatten ihm nicht viel über seine Eltern erzählt. Sein Vater war hier wohl sehr bekannt aber seine Mutter nicht.
  „Ich könnte dir deine Mutter zeigen, wenn du willst.”, sagte Orion.
  Yu sah Orion erstaunt an. Er wollte ihm seine Mutter zeigen? Aber wie den?
  „Möchtest du?”, fragte Orion und sah Yu dabei durchdringend an.
  Noch bevor Yu sich entschieden hatte, ja noch bevor er wusste was geschah, spürte er, wie sein Kopf langsam zögernd nickte.
  Orion griff in den ärmel seines Kimonos und holte eine faustgrosse Glaskugel hervor. Er kniete sich vor Yu auf den Boden und reichte ihm die Kugel. Yu nahm sie sachte in die Hände. Yu hielt die Kugel so vorsichtig in den Händen, als fürchtete er sie könnte zerbrechen. Das Sonnenlicht brach sich in der Kugel und warf es in tausend Fassetten in den Raum.
  „Was ist das?”, fragte Yu voller Erstaunen.
  „Das Ding heisst Memory.”, sagte Orion.
  „Es ist in der Lage eine deiner Erinnerungen aus deinem Herzen zurückzuholen und sie dir zu zeigen. Auch wenn du noch zu klein warst um dich zu erinnern.”
  „Kann ich damit auch meine Mutter sehen?”
  „Natürlich.”
  „Und wie?”
  „Du musst nur fest an das denken, was du sehen willst und tief in deinem Herzen nach dieser Erinnerung suchen.”
  Yu wusste nicht, wie er an eine verlorene Erinnerung denken Sollte. Die Neugier und der Wunsch, seine Mutter zu sehen, waren aber stärker. Er schloss die Augen und versuchte ganz fest, sich an irgendetwas von seiner Mutter zu erinnern. Ihre Stimme, ihr Geruch, ihre Haare oder sonst irgendwas. Yu spürte, wie die Memorykugel sich langsam erwärmte.
  Yu öffnete die Augen. Die Kugel leuchtete. In der Kugel bewegte sich etwas. Yu sah hinein. Das Licht wurde heller und hüllte Yu vollständig ein.

Das Licht legte sich wieder etwas. Um Yu herum nahm ein heller Raum Gestalt an. Es war ein Krankenzimmer. Im Sessel am Fenster sass eine junge Frau. Sie hatte dunkles Haar und hellblaue Augen. Sie las in einem Buch und wirkte sehr glücklich. War das seine Mutter? Yu trat näher heran. Er wollte sie berühren. Er streckte seine Hand nach ihr aus aber sie glitt durch ihr Gesicht hindurch. Da fiel es Yu wieder ein. Das alles war nur eine Erinnerung aus seinem Herzen.
  Neben dem Sessel stand eine kleine Wiege. Yu fragte sich, ob er selbst in der Wiege lag. Yu hörte ein leises klopfen. Seine Mutter hob den Kopf und sah zum Fenster. Yu folgte ihrem Blick. Draussen vor dem Fenster schwebte ein Junge. Er war etwa neun Jahre alt, hatte Feuerrote Haare und zwei grosse, weisse Flügel auf dem Rücken. Es war Ri.
  Yus Mutter legte ihr Buch zur Seite, ging zum Fenster und öffnete es. Ri flog munter in den Raum und blieb vor ihr in der Luft schweben.
  „Guten Morgen Mika!”, rief er fröhlich.
  „Wie geht es dir und dem Kind?”
  „Uns geht es gut, danke der Nachfrage.”, sagte sie lachend. Ihre Stimme klang so sanft und melodisch wie die einer Nachtigal.
  „Aber sag doch Ri, hat dein Vater dir nicht eigentlich verboten ganz allein in der Gegend rumzufliegen?”
  „Ja, eigentlich schon aber ich konnte einfach nicht mehr warten. Ich wollte unbedingt meinen kleinen Bruder sehen.”
  „Du bist ja richtig hibbelig Ri.”
  „Ja und wie. Kann ich ihn mal sehen Mika? Bitte!” Ris Flügel flatterten nervös.
  „Na schön. Setz dich da drüben aufs Bett. Ich hole ihn.”
  Ri liess sich aufs Bett sinken. Er zappelt nervös mit den Füssen. Seine Augen strahlten wie zwei Sterne. Mika ging zur Wiege und nahm ein kleines Stoffbündel heraus. Sie ging zu Ri hinüber und legte ihm das Bündel in die Arme. Es bewegte sich. Mika setzte sich neben Ri.
  Ri schob die Decke etwas zur Seite, so dass man das Gesicht des Babys sehen konnte. Der Kleine schlief.
  „Wie süss!”, sagte Ri und sah Mika an.
  „Er ist so klein.”
  „Was hast du erwartet?”, fragte Mika lachend.
  „Er ist doch erst ein Tag alt.”
  Der kleine öffnete die Augen. Er sah hoch, Ri direkt in die Augen. Der kleine lachte und brabbelte leise. Ri machte grosse Augen.
  „Er hat deine Stimme gehört und sich daran erinnert.”, sagte Mika leise.
  „Meinst du?”, fragte Ri unsicher.
  „Aber ja. Er weiss, dass du zu seiner Familie gehörst.”
  „Ehrlich?”
  „Ja und es sieht so aus, als ob er dich gern hat.”
  „Ich hab ihn auch gern.”
  Ri drückte das Baby leicht an die Brust. Ris Flügel legten sich schützend um das kleine Bündel. Der Kleine hob die Arme und versuchte nach den Flügeln zu greifen. Ri sah ihn mit sanftem Blick an.
  „Du magst meine Flügel oder ?”, flüsterte Ri.
  Der Kleine lächelt, als wenn er mit einem Ja antworten wolle. Ri bewegte seine Flügel ein bisschen, damit seine Federn sanft über das Gesicht des Kleinen strichen. Sie kitzelten ihn.
  „Du wirst auch bald Flügel haben. Wenn es dann so weit ist, werde ich dir das Fliegen beibringen. Das verspreche ich.”
  Mika legte ihren Arm um Ri.
  „Ich hoffe, dass du gut auf deinen kleinen Bruder aufpasst.”, sagte Mika schliesslich.
  „Natürlich werd ich das.”, sagte Ri.
  „Sag, weisst du schon, wie du hin nennen willst?”
  „Nein, ich kann mich irgendwie nicht entscheiden. Hast du denn eine Idee?”
  Ri wusste nicht was er auf diese Frage antworten sollte.
  „Autsch!”, rief Ri. Der Kleine hatte einen seiner Flügel zufassen gekriegt und hatte ihm versehentlich eine Feder ausgerissen. Er hielt die Feder noch in seiner kleinen Hand und schwenkte sie durch die Luft. Ri musste lachen. Da kam ihm eine Idee.
  „Wie wär′s mit Yu?”, fragte er.
  „Yu?”, wiederholte Mika.
  „Das klingt hübsch, was bedeutete das?”
  „Es bedeutet ′Feder′.”
  Mika dachte nach.
  „Ja, der Name gefällt mir.”, sagte sie.
  „So soll er heissen.”
  Der kleine Yu griff mit der freien Hand nach Ris Fingern. Er lachte.
  „Ich glaube, ihm gefällt seine Name auch.”, sagte Mika lächelnd.
  Ri sagte gar nichts mehr. Er sah nur auf seinen kleinen Bruder hinunter. Ri sah glücklich aus. Sanft streichelte er Yus kleine Hand, die seine Finger umschloss.
  Yu konnte nicht glauben was er sah. Ri hatte ihm also seinen Namen gegeben. Aber warum ausgerechnet diesen? Hatte er gewusst, was es bedeutet?

Der Raum löste sich wieder auf. Ri und Mika verschwanden im Nebel. Wieder wurde Yu von Licht eingehüllt. Yu spürte, wie er zu Boden sank. Um ihn herum nahm nun die Bibliothek wieder Gestalt an. Yu kniete auf dem Boden. Eine Träne rann ihm übers Gesicht. Yu starrte auf die Glaskugel in seinen Händen. Doch die Kugel war matt. Es war nichts mehr zu sehen.
  „Hat dir gefallen was du gesehen hast?”
  Yu wusste nicht was er antworten sollte. Eigentlich hatte er sich doch so gewünscht gehabt, seine Mutter zu sehen und jetzt hatte er sie gesehen. Dazu hatte er auch noch seinen Bruder gesehen. Wie lieb Ri doch zu ihm gewesen war, so kurz nach seiner Geburt.
  Yu gab Orion die Kugel zurück.
  Auf dem Gang war das Getrappel mehrerer Füsse, begleitet von einem wilden Geschnatter zu hören. Der Lärm erstarb. Ein dunkelhaariger Junge, etwa in Yus Alter, blickte um die Ecke in die Bibliothek.
  „Ach, hier seid Ihr Orion.”, sagte der Junge.
  „Wir haben euch schon gesucht.”
  „Oh, Taki. Entschuldigt bitte.”, sagte Orion und ging durch den Raum auf ihn zu.
  „Ich hatte vorher noch etwas zu erledigen.”
  Der Junge kam herein. Ihm folgten noch dreizehn weitere Personen. Die meisten waren etwa in Yus Alter. Einig waren aber deutlich jünger. Yu stand schnell auf und stellte sich etwas Abseits hin. Die Jugendlichen kamen in die Ecke und Setzten sich auf die Sessel und Sitzpolster. Die Einen trugen schöne alte Kimonos mit hübschen Mustern. Die anderen, hauptsächlich die Jungs, trugen Jens und T-Shirt und darüber einen Mantel, so wie Yu. Yu beobachtete sie. Der Junge, den Orion Taki genannt hatte, liess sich ganz in Yus Nähe auf ein Sitzpolster am Boden nieder. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren ging zu einem Sessel am Grossen Fenster hinüber. Sie hatte ein Mädchen an der Hand, das ebenfalls blonde Haare hatte nur kürzer. Sie waren wohl Schwestern. Die Kleine winkte Yu im Vorbeigehen zu. Yu winkte völlig überrascht zurück. Die ältere der beiden setzte sich auf den Sessel und nahm die Kleine auf den Schoss. Zwei Jungs, die sich angeregt unterhielten, setzten sich etwas weiter hinten an einen kleinen Tisch. Eine kleine Gruppe Mädchen im Alter zwischen fünfzehn und zwölf, die kichernd die Köpfe zusammensteckten, liessen sich auf dem Boden nieder.
  Nach ein paar Minuten hatten sich alle irgendwo hingesetzt und redeten noch eifrig miteinander. Orion trat in die Mitte und klatschte einmal kräftig in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.
  „Seid doch bitte einen Moment still.”, sagte er. Sofort herrschte Stille.
  „Also, bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, möchte ich euch noch jemanden vorstellen.”
  Orion bedeutete Yu zu ihm zu kommen. Yu trat aus dem Schatten heraus und stellte sich neben Orion. Yu wandte sich den anderen zu.
  „Das hier ist Yu.”, sagte Orion vergnügt.
  „Yu ist heute zum erstenmal bei uns. Er ist mit unserem Unterrichtsstoff noch nicht vertraut. Ich hoffe, dass ihr ihn bei euch aufnehmt und euch um ihn kümmert. Setz dich doch Yu.”
  Yu setzte sich auf den freien Platz an der Wand neben Taki.
  Orion liess sich wieder ins einem Sessel nieder.
  „So.”, sagte er.
  „Wo haben wir das letzte mal aufgehört?”
  „Wir waren beim Himmelssiegel.”, sagte das blonde Mädchen, mit ihrer Schwester auf dem Schoss.
  „Ach ja, das Siegel. Also, wer weiss etwas über das Siegel?”
  Fast die Hälfte der Schüler hoben die Hände.
  „Yukito, was weisst du?”, fragte Orion.
  „Das Siegel wurde geschaffen um die Macht des Universums zu verschliessen..”, antwortete ein dunkelhaariger Junge aus der hinteren Reihe.
  „Yoko.”
  „Die Kraft des Universums kann nur erlangen wem es gelingt das Siegel zu öffnen.”, sagte ein Mädchen mit langen roten Haaren.
  „Ruri.”
  „Das Siegel wurde in der Grossen Himmelsschlacht erstmals geöffnet und seit jeher nie wieder.”, sagte ein Mädchen mit langen dunklen Zöpfen.
  „Ihr habt recht.”, sagte Orion schliesslich.
  Orion schwenkte Die Hand in der Luft. Aus einem Regal in der Nähe kam ein in rotes Leder gebundenes Buch zu ihm geflogen. Orion blätterte darin. Er schlug das Buch auf einer Seite auf und reichte es einem Mädchen, das neben ihm sass. Das Mädchen sah ins Buch und reichte es kurz danach weiter an den Jungen neben ihr. Dieser gab es an Yu weiter. Taki sah Yu neugierig über die Schulter. Auf einer Seite war ein grosser Kreis Abgebildet. Der Rand des Kreises war mit merkwürdigen Symbolen verziert, die Yu nicht entziffern konnte. In den Kreis war ein Penntagrahm gezeichnet und in der Mitte dieses Penntagrahmes war eine Feder abgebildet. Yu reichte das Buch weiter.
  „Die Geschichte des Siegels beginnt zu der Zeit, als die Menschheit sich erst entwickelt hatte. Die Guardians erlernten ihr Handwerk als Wächter der Erde und der Menschen. Wie aus dem Nichts tauchten damals die Dämonen auf. Sie bemächtigten sich der Kraft, die damals noch frei war. Sie verwüsteten die Erde und versklavten die Menschen. für die Guardians war schnelles Handeln gefragt. Sie hatten damals noch nicht solch grosse Kraft entwickelt wie heute. Sie waren den Dämonen nicht gewachsen. Die Dämonen hatten sie die Macht des Universums zu eigen gemacht. Dadurch waren sie den Guardians überlegen. Der hohe Rat beschloss, das einzig richtige zu tun und die macht des Universums zu versiegeln. Indem alle Guardians ihre Kräfte vereinten gelang es ihnen das Himmelssiegel zu schaffen. Zusätzlich legten sie einen Bann auf das Siegel. Der hohe Rat sagte, dass nur ein Guardian mit grosser Kraft und reinem Herzen in der Lage sei, das Siegel zu öffnen und Die Macht zu nutzen. Nun, da die Dämonen geschwächt waren, konnten die Guardians sie in einer Schlacht besiegen und verbannten sie in die Unterwelt.
  Und wie ihr wisst, fand vor fast dreitausend Jahren die grosse Himmelsschlacht statt. Es war den Dämonen gelungen aus der Unterwelt zu entkommen. Nun wollten sie die Welt der Guardians einnehmen. Uns vernichten. Die Guardians hatten in der Zeit, seit sie die Macht versiegelt hatten, sehr viel gelernt. Sie Hatten ihre Kräfte und ihre Kampftechniken weiterentwickelt. Also traten sie ihnen entgegen. Aber keiner hatte geahnt, was auf sie zukommt. Denn auch die Dämonen hatten ihre Kräfte trainiert. Sie hatten jetzt eigene Kräfte und waren nicht mehr von der Macht des Universums abhängig. Die erste Schlacht zwischen Dämonen und Guardians verloren die Guardians auf schreckliche Weise. Dieser folgten noch viele Schlachten über ein Jahr lang. Viele Guardian Familien erwirkten in diesem Krieg, den man den Schattenkrieg genannt hatte, viel Ehre. Auch wenn viele diese Ehre mit dem Leben bezahlten.
  Es gab damals einen Guardian, der von allen der mutigste war. Keiji. Sein Spezialgebiet war der Sturm. Er war erst zwei Monate vor der letzte Schlacht, der Schattensturmschlacht rekrutiert worden. Er war noch sehr jung. Erst siebzehn. Aber er gehörte schon zu den Besten. Er schlug sich in den Schlachten fast besser als die meisten, die schon seit Jahren kämpften.
  In der Schattensturmschlacht, gerieten die Guardians in arge Bedrängnis. Die Schlacht schien ewig zu dauern. Der Mut der Krieger sank, ihre Kräfte schwanden. Das Bedürfnis nach Schlaf und die Verzweiflung wuchsen. Selbst Keiji blieb davon nicht verschont. Gegen Ende des dritten Tages dieser Schlacht waren alle am Ende. Ein Krieger sagte, dass Keiji in den Sonnenuntergang geblickt hatte und gesagte habe, dass die Sonne auch morgen für die Guardians in Freiheit aufgehen solle. Mit diesen Worten schwang sich Keiji in die Luft und schrie die Worte in den dunklen Nachthimmel, die im Rand des Siegels geschrieben stehen. Der Geist überdauert die Ewigkeit. Diese Worte sollten ihm und der Truppe Mut machen. Keiji stürmte nach vorn, seine Kameraden Folgten ihm. Keiner wusste was Keiji vorhatte. Er nahm all seinen Mut und seine Kräfte zusammen und rief die Macht des Universums. Es gelang ihm das Siegel zu öffnen. Dadurch war es ihm möglich die Macht zu nutzen und die Dämonen zu besiegen. Aber leider musste er diese macht mit dem Leben bezahlen. Er rettete die Erde und die Welt der Guardians aber er selber überlebte diese Schlacht nicht. Das Siegel versiegelte sich selbst wieder nach der Schlacht und seitdem ist es niemandem mehr gelungen das Himmelssiegel wieder zu öffnen.”
  Orion verstummte. Während er geredet hatte, war es in der Bibliothek mucksmäuschenstill gewesen. Alle hatten an seinen Lippen gehangen. Auch Yu war von seinen Worten wie hypnotisiert gewesen. Langsam kehrte einer nach dem anderen in die Realität zurück, wie wenn sie aus einer Trance erwachen würden. Yu hatte das Gefühl gehabt, dass Orions Worte Bilder vor seinen Augen hatten entstehen lassen. Er glaubte, für einen kurzen Moment das Siegel in den dunkeln Wolken aufleuchten gesehen zu haben.
  „Ich denke, wir machen eine kleine Pause bevor wir weitermachen.”, sagte Orion sanft. Er erhob sich und verliess die Bibliothek.

Innerhalb weniger Minuten hatten sich die Schüler im Raum verstreut. Yu stand ebenfalls auf und setzte sich aufs Fensterbrett des grossen Bibliothekfensters und sah hinaus. Die Sonne stand schon viel höher. Die Sonnenstrahlen reichten mittlerweile in den ganzen Burghof.
  „Tolle Aussicht, oder?”, sagte eine Stimme neben ihm.
  Yu drehte sich nach der Stimme um. Neben ihm stand Taki. Er lächelte Yu an.
  „Yu, richtig?”, fragte Taki.
  „Ja.”, antwortete Yu knapp.
  „Ich bin Taki. Du bist heute das erste mal hier, oder? Warum eigentlich?”
  „Ich war vorher eben noch nie in dieser Welt.”
  „Soll das heissen du lebst auf der Erde?!”
  „J-ja.”
  „Ist ja cool!”
  „Findest du?”
  „Ja, natürlich. Ich war noch nie auf der Erde, dabei würde ich gern mal hin.”
  „Ach.”
  „Ja. Hier ist es so langweilig. Bei euch ist immer etwas los.”
  „Bei euch ist es aber auch schön. Hier ist alles so schön ruhig.”
  „Na ja, ist wohl Ansichtssache.”
  Taki lachte. Yu erwiderte Takis Lächeln.
  Orion betrat wieder die Bibliothek und alle Schüler eilten wieder zu ihren Plätzen.
  „Also, dann wollen wir mal weitermachen.”, sagte Orion und stellte sich vor ihnen hin.
  „Heute befassen wir uns mit der Telekinese. Wer kann mir sagen was das ist?”
  wieder schossen einige Hände in die Höhe.
  „Yu.”, sagte Orion plötzlich. Yu zuckte zusammen.
  „Yu, weisst du was Telekinese ist?”
  Yu zögerte.
  „Dinge allein durch die Kraft der Gedanken bewegen.”, antwortete Yu leise.
  „Das ist richtig.”, sagte Orion.
  „Die Telekinese erlaubt es uns, Dinge durch die Kraft unserer Gedanken zu bewegen. Diese Kraft ist leichter zu trainieren als die anderen.
  Wie bei allen anderen, ist das Wichtigste die Konzentration. Ihr müsst euch ganz auf euer Vorhaben konzentrieren. Ihr müsst mit Kopf und Herzen bei der Sache sein. Wenn ihr nur halbherzig mitmacht oder nur für einen Moment unkonzentriert seid, kann der Schuss ganz grauenhaft nach hinten los gehen. Ihr könntet eine Macht entfesseln, die ihr nicht kontrollieren könnt. Ihr könntet euch und andere in grosse Gefahr bringen. Seid also immer vorsichtig.
  Das Prinzip der Telekinese ist, das Energiefeld eines Gegenstandes zu erfassen und zu manipulieren. Anfangs könnt ihr die Hände benutzen um die Bewegung des Energiefeldes besser zu koordinieren.
  Also dann. Ich würde sagen wir versuchen es einfach mal.”
  Auf Orions Anweisung nahm sich jeder ein Buch aus den Regalen. Sie legten sie vor sich auf den Tisch oder auf den Boden. Sie hatten extra kleine, leicht Bücher genommen, weil diese, laut Orion, für Anfänger leichter zu bewegen waren.

In der nächsten Stunde versuchten alle ihre Bücher irgendwie zu bewegen. Die einen starrten ihre Bücher nur minutenlang an. Bei anderen zitterten die Bücher nach einer halben Stunde übung schon ein bisschen. Nur wenigen gelang es nach einer Stunde die Bücher ein bisschen zu bewegen. Bei einigen schwebten sie ein paar wenige Zentimeter über dem Boden. Es war nicht viel aber es war schon recht beindruckend. Taki war auch einer davon. Er konnte das Buch mit der Handfläche in der Luft dirigieren. Es kostete ihn aber sehr viel Kraft, so dass er das Buch nur ein paar Sekunden in der Luft halten konnte. Dann fiel das Buch zu Boden.
  „So jetzt du.”, sagte Taki nach einem weiteren Versuch zu Yu.
  „Ich? Nein, ich kann das nicht!”, sagte Yu schnell.
  „Doch du kannst es.”
  „Nein, ehrlich nicht. Ich bin nicht so gut wie du.”
  „Du hast es noch nicht mal versucht. Los nur einen Versuch.”
  „Also gut.”
  Yu gab nach. Er setzte sich vor sein Buch. Yu hatte keine Ahnung, wie er das Buch bewegen sollte. Er hatte erst vor wenigen Tagen erfahren, dass er ein Guardian war. Er konnte seine Kräfte noch nicht nutzen.
  Da viel Yu wieder ein, was Ri ihm am Tag zuvor gesagt hatte. Das Gefühl, dass er gespürt hatte, als Shui ihn angegriffen hatte. Die Hitze und der Druck in der Brust. Er sollte sich das Gefühl merken, denn es bedeutete, dass er es richtig machte.
  Yu begann sich auf das Buch zu konzentrieren. Nichts geschah. Yu seufzte. Dann spürte er es. Hitze staute sich in seiner Brust. Druck baute sich auf seinen Lungen auf. Er hielt die Hand übers Buch. Seine Hand wurde ebenfalls warm. Langsam hob Yu die Hand. Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, schwebte das Buch langsam in die Luft. Taki machte grosse Augen.
  „Das ist ja irre!”, flüsterte Taki ehrfurchtsvoll.
  Yu spürte wie der Druck in seiner Brust sich explosionsartig in seinem ganzen Körper ausbreitete. Die Energie schoss wie ein Blitz durch seine Adern. Durch die Energiedruckwelle schien Yus Körper zu zerreissen. Yu presste die Hände auf die Brust. Er beugte sich nach vorn und begann ruckartig zu atmen. Sein Körper brannte.
  „Alles in Ordnung?!”, hörte Yu Takis Stimme rufen.
  Yu spürte, wie sich zwei Hände auf seine Schultern legten. Die Hitze schwand. Der Druck lichtete sich von seinen Lungen, er konnte wieder normal atmen.
  Yu sah sich um, um zu sehen, wem die Hände gehörten, die auf seinen Schultern lagen.
  „Geht′s wieder?”, fragte Orion über Yus Schulter. Yu nickte.
  „Was... was war denn das?”, fragte Taki mit zittriger Stimme.
  „Energiestau. Das kann passieren, wenn man noch nicht viel übung hat.”
  Orion stand auf. Yu sah betreten zu Boden. Es war ihm etwas peinlich. Er konnte die Blicke der anderen spüren und ihr leises Flüstern konnte er auch deutlich hören.
  „So ich denke, das reicht für den Moment.”, sagte Orion.
  „Dann entlass ich euch mal in die Mittagspause. Erholt euch.”

Yu hatte sich mit den anderen nach draussen begeben. Der kühle Windhauch fühlte sich gut an. Yu stand auf einer der Burgmauern und lehnte sich auf die Brüstung. Die Landschaft lag ruhig im sanften Sonnenlicht. Der Wind streichelte sanft die dunklen Wälder und die Wiesen.
  Der nahe See glitzerte in der Sonne. Yu hörte Flügelschlagen. Er drehte sich um. Taki kam auf ihn zugeflogen. Die weissen Flügel weit gespannt. Er hatte zwei belegte Brötchen in den Händen. Er landete im Schneidersitz auf der Brüstung und reichte Yu eins der Brötchen.
  „Guten Appetit!”, sagte er lachend.
  „Danke.”, sagte Yu etwas verlegen.
  „Na, alles wieder im Loht?”
  „Ja, alles wieder okay.”
  „Weisst du, du bist schon seltsam.”
  „Seltsam?”
  „Ja, du kommst hierher und hast von nichts Ahnung. Aber trotzdem, bist du schon so gut.”
  „Gut? Ich?”
  „Ja, du hast doch heute zum ersten mal so was gemacht, oder?”
  „Ja.”
  „Siehst de. Ich hab das beim ersten mal nicht geschafft. Ich hab ganz schön lange üben müssen. Und du kannst das schon auf anhieb. Ist doch Wahnsinn.”
  Yu wurde jetzt erstrecht verlegen.
  Eine Gruppe Schüler kam auf sie zu.
  „Hi Taki, wie geht′s”, fragte ein Junge.
  „Gut, danke der Nachfrage.”, antwortete Taki.
  „Und was ist mit dir Sota?”
  „Och, ganz okay.”
  Taki stellte Yu den anderen vor. Da war ein Mädchen mit langen Zöpfen, Ruri und ein Mädchen mit langen roten Haaren, Yoko. Auch das blonde Mädchen mit ihrer kleinen Schwester war da. Sie hiess Sava und ihre kleine Schwester Maki. Dann war da noch Thomoyo, die mit ihren kurzen Haaren auf den ersten Blick, wie ein Junge aussah. Dann noch drei Jungs. Takato, Honda und Eiji.
  „Hey, habt ihr schon gehört?”, rief Takato begeistert.
  „Auf der Erde haben sie schon wieder einen erwischt, der einem Menschen die Energie aussaugen wollte.”
  „Ach ne. Wann war das denn.?”, fragte Sota neugierig.
  „Na, erst vor ein paar Tagen. Und rate mal wer ihn geschnappt hat.”
  „Wer denn, sag schon.”
  „Meister Ri natürlich, wer den sonst?”
  „Also, ich hab da was anderes gehört.”, warf Thomoyo ein.
  „Soviel ich weiss, war das nämlich nicht Ri sondern Shui.”
  „Shui?”, wiederholte Sota ungläubig.
  „Ausgerechnet.”, spottete Takato.
  „Ja, warum nicht?”, sagte Thomoyo giftig.
  „Shui kann Ri doch nicht das Wasser reichen!”, rief Sota.
  „Shui ist doch erst seit zwei Jahren dabei und Ri schon seit er siebzehn ist. Das ist einiges mehr an Erfahrung. Und da will ausgerechnet dieser Grünschnabel unsern Ri in den Schatten stellen? Dass ich nicht lache.”
  Die Jungs lachten über Sotas kleine Rede. Die Mädchen waren allerdings nicht so begeistert.
  „Du hast doch keine Ahnung Sota!”, entrüstete sich Yoko.
  „Shui ist um einiges besser als Ri!”
  „Ja, allerdings!”, rief Ruri.
  „Shui ist charmant und witzig. Ri ist immer so ernst. Richtig miesepetrig.”
  Die Mädchen nickten zustimmend. Die Jungs aber schüttelten die Köpfe.
  „Ri ist nicht miesepetrig!”, rief Eiji.
  „Er macht nur seine Arbeit und nimmt sie ernst. Im Gegensatz zu Shui.”
  „Jep.”, rief Honda dazwischen.
  „Shui nimmt das alles doch zu sehr auf die leichte Schulter. das kann noch mal böse ins Auge gehen.”
  „Mir hat man aber erzählt, dass es beide zusammen waren.”, sagte Sava, die sich bisher eigentlich nicht am Gespräch beteiligt hatte. Alle prusteten.
  „Ri und Shui? Zusammen?”, lachte Sota.
  „Die sind die schärfsten Konkurrenten. Die haben noch nie zusammengearbeitete und werden es auch nie. Was sagst du denn dazu, Yu?”
  Yu hörte aufmerksam zu. Er ahnte schon von welchem Vorfall sie sprachen. Sie meinten wohl den Dämon, der Yu am Freitagabend am Bahnhof angegriffen hatte. Yu erinnerte sich noch sehr gut daran. Er sah die Fratze des Dämons leibhaftig vor sich. Yu schüttelte sich. Er dachte daran, wie Ri und Shui plötzlich aufgetaucht waren. Yu hatte geglaubt, dass er vom Sauerstoffmangel schon Halus hatte. Ri und Shui, mit Schwert und Bogen bewaffnet und dann auch noch mit Flügeln auf dem Rücken. Das war schon ein starkes Stück gewesen.
  „Was meinst du, Yu?”, sagte Sota plötzlich.
  „Wie? Was?”, fragte Yu verwirrt.
  „Na, was du von den beiden hälst. Wer findest du denn am besten, Ri oder Shui?”
  Yu hatte keine Ahnung war er hätte antworten sollen. Er kannte Ri und Shui doch erst seit ein paar Tagen und auch eigentlich mehr als Brüder und weniger als Guardians.
  „Na ja, eigentlich kenn ich sie nicht so richtig.”, sagte Yu schliesslich.
  Aller rissen Augen und Münder auf.
  „Du kennst sie nicht?!”, rief Thomoyo halb entsetzt. Yu wurde ein bisschen rot.
  „Kuck mal Yu.”, sagte Takato und stellte sich neben Yu.
  Takato zog zwei Blätter aus der Tasche. Die Blätter waren etwas vergilbt. Auf den Blättern waren Tuschzeichnungen, die Ri und Shui zeigten. Ri mit Kimono und langem Umhang inmitten eines Flammenmeeres und Shui, ebenfalls mit Kimono und Umhang, im Wasser stehend.
  Yu grinste. Er war überrascht, wie berühmt Ri und Shui hier waren. Sie hatten ja schon richtige Fanclubs. Shui war der Mädchenschwarm. Die Mädchen mochten seine witzige und unbeschwerte Art und er hatte ein süsse Lächeln, behaupteten sie. Bei den Jungs war eher Ri angesagt. Seine unergründliche Art war es, welche die Jungs so interessant fanden. Er war halt einfach cool.
  „Sag am besten, dass du beide gut findest.”, flüsterte Taki Yu ins Ohr.
  „Dan verscherzt du es dir mit keinem.” Yu lachte.
  Thomoyo trat einen Schritt auf Yu zu. Sie legte ihre Hand an sein Gesicht und drehte es so, dass sie es aus allen Winkeln betrachten konnte.
  „Stimmt was nicht?”, fragte Yu verwirrt als sie sein Gesicht scharf zur Seite drehte.
  „Du siehst genau so aus wie er.”, sagte Thomoyo langsam.
  „Wie wer?”
  „Na, wie Ri.”
  Yu schluckte. Alle um ihn herum kamen näher. Sie schlossen den Kreis enger um ihn. Yu fühlte sich in die Enge getrieben. Nervös blickte er um sich.
  „Du hast recht Thomoyo.”, sagte Sota.
  „Wenn er rote Haare hätte und seine Augen dunkler währen, dann könnte man glatt meinen, dass sie Brüder seien.”
  Yu erschrak. Sie hatten sie etwa einen Verdacht? Yoko trat zu Yu und sah ihm in die Augen.
  „Aber wenn er lächelt sieht er eher aus wie Shui. Findet ihr nicht?”, sagte Yoko.
  „Na ja”, sagte Eiji.
  „Ganz wage.”
  „Seit nicht albern.”, rief Taki.
  „Kommt, bewegen wir uns lieber ein bisschen.”
  Die anderen liessen von Yu ab und drehten sich nach Taki um. Dieser erhob spannte die Flügel und erhob sich in die Luft.
  „Spielen wir ne Runde Jagen?”, fragte er mit einem breiten Grinsen.
  Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Sie taten es ihm gleich und stiegen in die Luft. Yu sah ihnen zu. Es sah aus, als hätte jemand einen Taubenschlag geöffnet. Duzende weisse Flügel schwirrten wild durcheinander.
  „Kommst du nicht Yu?”, fragte Honda.
  „Na ja, wisst ihr.”, sagte Yu nach den passenden Worten suchend.
  „I-ich kann noch nicht fliegen.”
  „Was?!”
  Honda hätte fast das Flügelschlagen vergessen. Er fasste sich zum Glück gleich wieder.
  „Du kannst nicht fliegen?!”, rief er. Die anderen wurden aufmerksam.
  „Wie? Nicht fliegen?”, sagte Sava.
  „Na ja, ich... ich hab es eben noch nicht gelernt.”, versuchte Yu zu erklären.
  „Ist doch egal!”, rief Taki.
  Taki packte Yu um die Taille und hob ihn in die Luft.
  „Ich bin der Fuchs!”, rief Taki und im nächsten Moment stiess er in die Tiefe hinab.
  „Bist du wahhhhhnsinnig!!!”, schrie Yu panisch.
  „Das ist unser Lieblingsspiel.”, sagte Taki.
  „Jagen. Einer ist der Fuchs. Die anderen sind die Jäger und versuchen den Fuchs zu fangen. Das ist alles. Tja und wir zwei sind die Füchse.”
  „Muss ich mitspielen?”
  „Jaha, du musst.”
  „Kann ich nicht ne Runde zusehen ?”
  „ähm... nein!”
  Taki flog dicht über dem Wasser im Burggraben. Dann, als ihm alle dicht auf den Fersen waren, stiess er steil nach oben und liess alle hinter sich. Es ging weiter. Quer durch den Burghof, um jeden einzelnen Turm herum, über das Dach des Hauptgebäudes und das ganz wieder von vorn. Taki flog die halsbrecherischsten Manöver. Loopings, Sturzflüge, rasante Wendungen und manchmal flog er sogar ein Korkenziermanöver. Yu wurde fast schlecht.
  Als Taki ihn wieder auf den Boden stellte, taumelte er ein paar Schritte und setzte sich erst mal auf den Boden, ihm war Schwindelig.
  „War doch lustig, oder?”, sagte Taki lachend.
  „Für dich vielleicht!”, sagte Yu mit schwirrendem Kopf.
  „Du hast dich amüsiert und ich währ vor Schreck fast gestorben!”
  „Ach so schlimm wird′s doch wohl nicht gewesen sein.”
  Die anderen landeten nun ebenfalls neben ihnen.
  „Man Taki!”, rief Takato völlig ausser Puste.
  „Du bist echt zu schnell für uns. So erwischen wir dich nie.”
  Erschöpft liessen sich die anderen neben Yu ins Gras sinken. Yu lachte. Es war einfach zu lustig, wie sie alle so im Gras lagen. Taki setzte sich nun auch hin. Allerdings war er kein bisschen erschöpft, er atmete noch nicht mal schneller.

Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und warfen ihren Schatten in den Burghof. Yu sah nach oben und beobachtete die grauen Wolken, wie sie über den Himmel zogen und sich vor die Sonne schoben. Es wurde kühler. Ein leichter Windstoss zerzauste ihm das Haar. er fröstelte ein bisschen. Yu beschlich auf einmal ein ungutes Gefühl. Er hatte das Gefühl, dass etwas auf sie zu kam. Etwas bedrohliches. Irgendetwas würde in Kürze passieren. Yu war unheimlich.
  Plötzlich hörten sie einen entsetzlichen Schrei. Alle schraken hoch.
  „Maki!”, schrie Sava auf einmal und im nächsten Moment flog sie schon im Eiltempo in die Richtung aus der der Schrei gekommen war. Die anderen folgten ihr. Yu hatte zwar Mühe mit dem Tempo der anderen Schritt zu halten aber zum Glück war er ein schneller Läufer.
  Als sie um das Hauptgebäude herum gelaufen waren, bot sich ihnen ein schreckliches Schauspiel. Da standen die andern, von einer Schar grässlich aussehender, geflügelter Wesen. Dämonen. Sie versteckten sich hinter der Ecke des Gebäudes. Yu erstarrte. Die sahen genauso aus, wie die Kreatur, die ihn vor ein paar Tagen am abends am Bahnhof angegriffen hatte. Yu sah, wie die kleine Maki unter den Beinen eines der Dämonen durch tauchte und zu entkommen versuchte. Der Dämon bemerkte Makis Flucht und drehte sich nach ihr um. Der Dämon streckte seine grosse, hässliche Klaue nach ihr aus um sie zu greifen.
  Mit grosser Mühe hielten die Jungs Sava zurück.
  „Lasst mich! Ich muss Maki helfen!”, schrie Sava.
  „Schht!”, zischte Taki. „Sei still, Sava. Wir müssen auf Orion warten.”
  Maki schrie vor Angst. Sava versuchte sich loszureissen. Verzweifelt sahen die anderen zwischen den Dämonen und dem Turm hin und her in der Hoffnung, dass Orion endlich auftauchen würde. Da stürzte auf einmal etwas in Richtung Dämonen an ihnen vorbei.
  Es war Yu. Yu dachen nicht nach. Er hatte nur einen Gedanken im Kopf. Er musste Maki helfen. Er stiess sich vom Boden ab und hechtete nach vorn und riss Maki mit sich, ausser Reichweite des Dämons. Der Dämon drehte sich nach Yu um. Er streckte seine klauenartigen Hände nach ihnen aus.
  Ein greller Blitz zuckte. Der Dämon fiel vorn über und blieb reglos liegen. Yu sah nach hinten. Orion stand da mit erhobenen Händen. Das sanfte Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen. Die zum bersten angespannte Energie war deutlich um Orion herum zu spüren. „Lauf!”, rief Orion ohne den Blick von den übrigen Dämonen abzuwenden.
  Yu überlegte nicht lang. Er hob Maki, deren Blick wie versteinert war, hoch und rannte mit ihr um die Ecke des Hauptgebäudes. Sava schloss ihre kleine Schwester in die Arme.
  Taki und die Jungs spähten gespannt um die Hausecke. Sie waren gespannt was wohl als nächstes passieren würde.

Da standen sie sich gegenüber, Orion und die Dämonen.
  „Was glaubt ihr, hat Meister Orion vor?”, fragte Eiji nervös.
  „Kein Ahnung.”, antwortete Takato angespannt.
  „Will er etwa kämpfen?!”, rief Thomoyo entsetzt.
  „Wieso auch nicht.”, sagte Taki.
  „Mein Vater hat mir erzählt, dass Orion, als er noch jung gewesen war, ein sehr guter Krieger war. Er soll es manchmal mit fünf oder sechs Dämonen gleichzeitig aufgenommen haben. Er wird schon wissen was er tut.”
  „Was wollen die nur?”, flüsterte Yu etwas geistesabwesend.
  Der Dämon, der Orion am nächsten stand hob die Hand. Zwischen seinen Fingern züngelten schwarze Flammen hoch. Der Dämon liess einen furchtbaren Schrei los und stürzte sich auf Orion. Die Mädchen schrieen auf. Orion wich aus und schlug dem Dämon seine Faust zwischen die Rippen. Funken stieben an der Stelle, wo Orion die Haut des Dämons berührt hatte. Der Dämon schrie vor Schmerzen und im selben Moment löste er sich in hellen Flammen auf. Yu sah zu Orion. Sein Haar wehte im Wind, die langen ärmel seines Kimonos zurückgeschlagen. Yu sah, wie sich eine dunkle Gestalt hinter Orion aufbaute. Ein zweiter Dämon hatte sich angeschlichen und wollte Orion von hinten attackieren. Yu wollte Orion warnen. Doch bevor er den Mund öffnen konnte, spürte er, wie eine verschwommene Gestalt an ihm vorbeisauste. Ein blauer Blitz zuckte. Der Dämon sank mit gespaltenem Schädel zu Boden. Die Gestalt blieb stehen. Yu erkannte langes blaues Haar und einen blauen Kimonomantel mit Wellenmuster. Es war Shui.
  Shui schwebte etwa drei Meter über dem Boden das Schwert Rainstorm mit beiden Händen fest umklammert. Yu spürte eine mächtige Aura um Shui herum.
  Hinter den Zinnen tauchten drei weitere Guardians auf. Alle waren sie mit Schwertern bewaffnet. Mit Shui zusammen hatten sie die Dämonen in wenigen Minuten umzingelt.
  „Passt auf, dass ihr die Kinder nicht verletzt!”, rief ein älterer Guardian.
  Sie schwebten zu viert im Kreis um die Dämonen.
  „Jetzt!”, rief ein anderer Guardian.
  Yu sah nur Blitze zucken. Ein grelles Licht flammte auf und blendete ihn. Eine riesige Staubwolke wirbelte auf und hüllte den gesamten Als das Licht wieder abklang, standen alle vier Guardians auf dem Boden. Die Dämonen lagen alle samt auf dem Boden. Die Körper flammten auf und lösten sich in Luft auf, so wie schon die anderen zuvor. Yu war völlig baff. Das war schneller gegangen, als er sehen konnte.
  „Seid ihr alle in Ordnung?”, fragte Shui.
  Die Kinder waren noch etwas zittrig aber ansonsten ging es ihnen gut. Auch die anderen kamen hinter dem Hauptgebäude hervor. Shui drehte sich nach ihnen um. Er lächelte und zwinkerte Yu zu.
  „Ist er nicht süss?”, schwärmte Yoko neben Yu.
  Shui wurde von Mädchen nur so umzingelt. Yu sah um sich. Die Guardians hatten die Dämonen zwar besiegt aber er hatte immer noch dieses ungute Gefühl.
  Taki, der neben Yu stand, bemerkte Yus Nervosität.
  „Spürst du es auch?”, fragte Taki.
  „Was denn spüren?”, erwiderte Yu.
  „Wir werden beobachtet.”
  „Was im ernst?!”
  „Ja. Fühlst du es denn nicht?”
  Jetzt wo Taki es sagte, konnte Yu es auch fühlen. Das Gefühl als ob tausend Augen auf ihn gerichtet währen. Yu lief ein kalter Schauer über den Rücken.
  „Was hat das zu bedeuten?”, flüsterte Yu.
  „Ich weiss nicht.”, antwortete Taki.
  „Vielleicht irre ich mich ja auch.”
  Yu sah Taki verwundert an. Taki zitterte. Yu hatte das Gefühl, dass Taki irgendetwas vermutete. Taki sah nervös um sich, als wenn er etwas suchen würde. Oder jemanden.
  Yu öffnete den Mund. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, schlug ein greller Blitz zwischen den beiden im Boden ein. Yu wurde gegen die Burgmauern geschleudert und Taki flog gegen den nächsten Baum.
  ächzend stützte sich Yu auf die Arme um aufzustehen. Er suchte nach Taki. Dieser sass zusammengesunken mit dem Rücken gegen den Baum gelehnt.
  Yu lief stolpernd zu ihm hinüber.
  „Taki!”, rief Yu.
  „Taki, bist du verletzt?”
  „Es geht schon.”, sagte Taki und zog sich am Baumstamm hoch.
  „Was ist passiert?”, hörte Yu jemanden rufen.
  Shui kam durch die Menge auf sie zugerannt. Ein zweiter Blitz sauste durch die Luft und schlug dicht vor Shuis Füssen ein.
  „Was war das?”, rief Shui.
  Ein schallendes Lachen erhob sich. Alle starrten gebannt in die Richtung aus der es kam. Es war niemand zu sehen. Woher kam nur dieses Lachen?

„Wirklich amüsant.”, sagte eine hämische Stimme aus der Dunkelheit.
  Aus dem Schatten der Bäume trat ein Mann. Der Mann lächelte zwar aber aus seinen Augen sprach reine Bosheit. Das lange dunkelrote Haar hatte er zu einem Zopf geflochten. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht. Ihn umgab eine gewaltige Aura. Yu konnte die Gewalt und die Eiseskälte fast auf der Haut spüren. Yu sah zu Shui. Shuis Gesichtsausdruck war seltsam starr.
  „Wer bist du? Was willst du?”, rief Shui mit leicht zittriger Stimme.
  „Wer ich bin?”, entgegnete der Fremde. „Das ist unwichtig. Was ich will? Das ist meine Sache. Wie ich das bekomme, was ich will? Das wird euer Problem.”
  Der Fremde begann wieder zu lachen. Hinter ihm tauchten einige Wesen aus der Dunkelheit auf. Sie sahen aus wie Guardians aber anstatt der weissen Schwingen hatten sie schwarze fledermausähnlich Flügel. Dämonen.
  „Ich will nur eins.”, sagte der Fremde. „Taki.”
  Yu sah augenblicklich zu Taki hinüber. Taki stand da wie vom Blitz getroffen. Yu fragte sich, was dieser Typ von Taki wollen könnte. Ob Taki es selber überhaupt wusste?
  Der Fremde hob die Hand und gab den Dämonen hinter ihm ein Zeichen. Augenblicklich stürzten sich die Dämonen auf Taki. Doch bevor sie ihn erreicht hatten, waren die Guardians dazwischen gegangen. Schützend stellten sie sich vor Taki und wehrten die Dämonen ab.
  „Schnell, lauft weg!”, schrie Shui den beiden zu.
  Taki tat keinen Wank. Er war starr vor Schreck. Yu griff nach Takis Arm und versuchte ihn weg zu zerren.
  „Los komm!”, rief Yu um Taki aus seiner Erstarrung zu befreien.
  Taki wurde wieder klar im Kopf. Er verlor keine Zeit, breitete seine Flügel aus und stiess sich in die Luft. Yu rannte so schnell er konnte hinter Taki her.
  „Du entkommst mir nicht!”, rief der Fremde hinter den beiden her.
  Er breitete seine Flügel aus und flog hinter Taki her. Shui entging das nicht und verfolgte den Fremden. Shui hatte keine Chance. Der Fremde schlug ihn sofort nieder. Shui trudelte zu Boden und blieb regungslos liegen. Den anderen Guardians ging es nicht besser. Mit grosser Mühe konnten sie die Dämonen im Zaum halten.
  Yu bekam langsam Panik. Er musste dringend etwas unternehmen, wenn er nicht wollte, dass Taki diesem Typen in die Hände fiel.
  Taki gelang es nicht, seinen Verfolger abzuschütteln. Der Fremde hob Die Hand. Aus seiner Hand schoss ein schwarzer Blitz. Der Blitz traf Taki in den Rücken. Taki erstarrte. Er war nicht mehr in der Lage seine Flügel zu bewegen. Taki fiel aus fast fünfzehn Metern ungebremst hinunter. Yu zögerte keinen Moment. Er hechtete nach vorn und fing Taki aus der Luft ab.
  „Alle klar?”, fragte Yu.
  „Ja, danke Yu.”, antwortete Taki.
  „Na, na.”, sagte der Fremde, der über den beiden schwebte.
  „Das war aber gar nicht nett, mir einfach so den Spass zu verderben.”
  Er hob die Hand. Wieder schoss er einen schwarzen Blitz auf Taki ab. Dieses mal reagierte Yu sofort und warf sich schützend über den am Boden liegenden Taki.
  Der Blitz drang in Yus Körper wie ein Dolch aus Eis. Sein Innerstes verkrampfte sich. Sein Körper vibrierte.
  „Yu!”, schrie Taki.
  Yu öffnete krampfhaft die Augen. Takis Augen waren schreckgeweitet. Seine Hände schlangen sich um Yus Arme die er rechts und links neben Takis Kopf auf den Boden stemmte.
  „Gib auf!”, rief der Fremde lachend, der nun seine ganze Energie auf Yu konzentrierte. „Du glaubst doch wohl nicht, dass du halbe Portion mir Standhalten kannst?!”
  „Ich gebe nicht auf!”, keuchte Yu.
  Er dachte an seine Brüder. Wie stark und mutig sie waren. Er wollte auch so stark sein wie sie. Er wollte auch ein starker Guardian werden damit Ri und Shui stolz auf ihn sein konnten. Er wollte, dass sie sagen konnten, dass er ihr Bruder war.
  Yu spürte, wie sein Körper wieder heiss wurde. Der Druck baute sich wieder in seiner Brust auf. Yu spürte wie sich ein Energiefeld um ihn herum aufbaute. Mit einem Ruck ging eine Druckwelle von seinem Körper aus und schleuderte seinen Angreifer gegen den Burgturm.
  „Interessant.”, flüsterte der Fremde. „Diese ungeheure Kraft. Diese Energie. Das kommt mir vertraut vor. Woher kenn′ ich das nur. Na, auch egal.”
  Der Fremde sammelte seine Energien. Yu kam jetzt in Bedrängnis. Er war zu geschwächt um seine Attacken noch einmal abzuwenden. Der Fremde formte einen Feuerball in seinen Händen.
  „Eigentlich schade um dich.”, sagte er, zog seinen Arm zurück und schleuderte den Feuerball in Yus Richtung.
  Ein brennender Pfeil sirrte durch die Luft und stiess den Feuerball zur Seite.
  „Ri”, flüsterte Yu leise.
  Tatsächlich, da über ihnen schwebte Ri. Den Bogen gespannt, die Sehne mit dem brennenden Pfeil bis zum Anschlag zurückgezogen.
  „Lass die Jungs in Ruhe!”, sagte Ri und die Anspannung war deutlich in seiner Stimme zu hören.
  „Ach, Ri”, sagte der Fremde plötzlich. „So was. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Wie lang ist es denn schon her?”
  „Seit der Sache vor drei Jahren.”
  „Ach, mir kam′s länger vor. Aber auf der Erde vergeht die Zeit wohl nicht so langsam wie in der Unterwelt, oder?”
  „Worauf willst du hinaus?”
  „Tu nicht so. Als ob du dir das nicht denken kannst. Ich hab es schliesslich nur dir zu verdanken, dass mich der Rat damals in die Unterwelt verbannt hat.”
  Yu verstand nicht was vor sich ging. Keuchend stemmte er sich hoch damit Taki aufstehen konnte.
  „Und warum greifst du eigentlich die Burg an?”, fragte Ri genervt.
  „Weil ich genau wusste, dass du nicht wiederstehen kannst und sofort antanzt”, antwortete der Fremde hämisch grinsend.
  Yu konnte die Anspannung zwischen den beiden förmlich fühlen.
  „Weisst du Ri”, sagte der Fremde. „Ich habe die ganze Zeit seit meiner Verbannung genutzt, um mir zu überlegen, wie ich mich am besten an dir rächen könnte. Ich dachte, wie kann ich es anstellen, dass du auch richtig schön leidest. Allerdings, wie sollte ich das machen? Du bist ja berüchtigt dafür, dass du gegen Schmerz unempfindlich bist. Dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Was gäbe es für so einen pflichtbewussten Guardian schlimmeres, als wenn er seine Pflichten nicht erfüllen kann. Pflichten wie zum Beispiel, den Sohn des Ratsvorsitzenden zu beschützen. Also dachte ich, es währe doch nett, wenn ich den guten Taki direkt vor deinen Augen töten würde.”
  „Netter Plan. Er hat nur einen Haken. Der Junge dort hat dir wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sonst wäre dein Plan aufgegangen.”
  „Ja, ja”, sagte Shui, der von dem Sturz noch ganz benommen war.
  „Unser Yu ist wirklich etwas besonderes.”
  Ri warf ihm einen scharfen Blick zu. Shui schlug sich blitzartig die Hand vor den Mund.
  Der Fremde sah zwischen den dreien hin und her. Sein Blick hellte sich auf. Ein greller Blitz schlug über seinem kopf ein und im nächsten Moment war er verschwunden.

„Puh! Das war aber knapp.”, sagte Shui und stand taumelnd auf.
  „Du bist so ein Idiot.”, zischte Ri.
  „Was denn? Hab ich was falsch gemacht?”
  „Du hättest um ein Haar alles auffliegen lassen!”
  „Oh... sorry... war keine Absicht.”
  „Ach, ich hätte nicht gedacht dass du noch dümmer werden kannst. Stell dir vor irgendjemand würde rausfinden, dass wir drei Brüder sind. Was glaubst du, was dann los ist?”
  Ri schwieg. Die anderen kamen auf sie zu.
  „Ist jemand verletzt?”, fragte der alte Guardian.
  „Nein.”, antwortete Ri.
  „Nur jemand der auf den Kopf gefallen ist, aber das macht ja keinen Unterschied.”
  Ri breitete seine Flügel aus und schwang sich elegant in die Luft. Yu sah Ri nach. Am liebsten wäre er jetzt mit ihm mitgegangen aber das ging ja leider nicht. Dann wären sie alle sofort aufgeflogen.
  „Alles klar bei dir Yu?”, fragte Taki und reichte ihm die Hand.
  Yu zog sich an Takis Hand hoch. Yu spürte einen leicht stechenden Schmerz in der linken Seite. Rasch presste er die rechte Hand auf die schmerzende Stelle.
  „Hast du dich verletzt?”, fragte Taki besorgt.
  „Ist schon gut. Ich werd′s überleben.”, sagte Yu lächelnd.
  „Yu,... ich muss mich bei dir bedanken.”
  „Wofür?”
  „Dass du mich gerettet hast.”
  „Ist schon gut. Das versteht sich doch von selbst.”
  Nach und nach löste sich die Anspannung und einer nach dem anderen gingen sie, bis nur noch Yu übrig war. Yu sass au der Burgmauer und sah dem Sonnenuntergang entgegen. Er dachte an den Fremden. Das war nie und nimmer ein Dämon gewesen. Aber was war er dann? War er ein Guardian? Aber Guardians beschützen doch die Menschen.
  Yu hört Schritte hinter sich. Er drehte sich um. Ri stand vor ihm.
  „Wo ist Shui?”, fragte Yu.
  „Zuhause.”, sagte Ri knapp.
  „Ist er schlimm verletzt?”
  „Nein, er hat nur üble Kopfschmerzen. Dabei dachte ich eigentlich nicht, dass einem etwas weh tun kann, was man nicht hat. Komm, lass uns nach hause gehen.”
  Ri hob Yu hoch, spannte seine Flügel und liess sich vom auffrischenden Wind wegtragen.

Copyright: Diese Geschichte ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind untersagt.
© 2005 - Shuichi Shindou / Sabrina Winterberg - Schweiz / Suisse / Svizzera / Svizra / Switzerland.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

«Startseite»   «Manga»   «FanArts»   «FanFics»   «Rezepte»
«Steckbrief»   «Nice To Know»   «Gästebuch»   «Impressum»