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Shuichi’s Schatzkästchen

~ FanFictions ~

„Guardians” Teil IV

Copyright: Diese Geschichte ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art sind untersagt.
© 2005 - Shuichi Shindou / Sabrina Winterberg - Schweiz / Suisse / Svizzera / Svizra / Switzerland.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Der echte Ri lag zuhause auf dem Sofa. Seine Augen hatte er mit seinem Arm abgedeckt. Er hatte versucht zu schlafen. Aber es ging nicht.
Ri hörte das leise Getrappel von Füssen im Flur und gedämpfte Stimmen, die sich angeregt unterhielten. Ri schoss hoch. Er hatte Shuis und Xies Stimmen sofort erkannt. Er hastete in den Flur, wo die Beiden standen.
„Habt ihr ihn?”, fragte er aufgeregt.
Die Frage hätte er sich auch sparen können. Denn er sah sofort, dass Yu nicht bei ihnen war.
„Wir haben überall gesucht”, sagte Shui und liess den Kopf hängen.
Xie begann aufzuzählen: „In der Schule, im Einkaufszentrum, wir waren sogar bei all seinen Freunden. Keine Spur.”
Ri lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Nervös fuhr er sich mit zitternden Händen durch die Haare.
„Ri”, sagte Shui mit zittriger Stimme und legte seine Hände an Ris Schultern, „Yu geht es sicher gut. Du wirst sehen. Morgen früh steht er sicher wieder bei uns auf der Matte. Hungrig und müde aber gesund. Da bin ich ganz sicher.”
Ri rutschte der Wand nach zu Boden. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht und Shui glaubte zu sehen, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen. Shui war völlig ratlos noch nie hatte er Ri in einem solchen Zustand gesehen.
„Da fällt mir noch was ein”, sagte Xie plötzlich.
Sie griff in die Tasche ihrer Jacke und zog eine silberne Kette hervor. Ris Gesichtszüge erstarrten als er die Kette sah. An ihr baumelte eine silberne Feder.
„Die gehört doch Yu oder?”, fragte Xie und hielt die Kette hoch.
Ri stand so rasch auf, dass Shui völlig überrumpelt wurde. Er riss Xie die Kette aus den Händen.
„Wo hast du die her?!”, fragte Ri heftig.
„Die Kette ist gerissen”, sagte Xie schnell. „Bestimmt ist sie Yu im Gehen vom Hals gerutscht. Mach dir keine Sorgen.”
„Das verstehst du nicht. Ohne die ist Yu völlig schutzlos. Ich muss ihn sofort finden!”
Ri rannte aus dem Haus in die dunkle Nacht. Shui und Xie sahen ihm nach.
„Was ist denn an dieser Kette so besonderes?”, fragte Xie verwirrt.
„Es ist ein ganz spezieller Glücksbringer”, sagte Shui. „Yu hat ihn kurz nach seiner Geburt bekommen.”
Ri stoppte auf dem Gehweg vor dem Haus. Nervös blickte er in alle Richtungen. Er war unschlüssig in welche Richtung er gehen sollte. Er hatte keine Ahnung wo Yu sein könnte.
„Ganz ruhig, ganz ruhig”, sagte Ri zu sich selbst.
Er sammelte seinen Verstand, seine Sinne wurden wieder klarer. Ri schloss die Augen. Langsam umschloss er die Halskette mit beiden Händen und konsentrierte sich auf die Energie die von ihr ausgingen.
„Wo ist Yu?”, flüsterte Ri leise.
Vor seinem geisteigen Auge nahm ein Bild Gestalt an. Er sah die Silhouette leerstehender Häuser in der Dunkelheit. Eine Strasse, einsam in der Nacht. Das leise Rauschen eines Flusses drang in seine Ohren. Eine einzelne Strassenlaterne erhellte die dunkle Strasse. Im Licht der Laterne war eine Gestalt zu sehen, die sich am Boden krümmte. Eine zweite Gestalt stand über ihr. Ri konnte die Gestalt nicht erkennen aber von ihr ging keinerlei Leben aus. Es war nur eine Illusion. Kein Zweifel, Yu musste dort sein.
Ri stürmte los, wenn er recht hatte, dann musste Yu in grosser Gefahr sein.

Yu war völlig zerschlagen. Es ist nur eine Illusion, wollte Yu sich sagen. Aber es nützte nichts. Er konnte Ri nicht angreifen und sich auch nicht richtig verteidigen. Obwohl er wusste, dass es nicht der echte Ri war, konnte er ihn nicht verletzen. Irgendwas tief in ihm, sträube sich dagegen.
Yu hatte Schmerzen. Seine Rippen taten weh. Seine Lippen waren aufgerissen. Die Wunde an seiner Stirn war wieder aufgeplatzt. Seine Knie waren zerschürft. Der fiktive Ri hatte ihn immer wieder gepackt und gegen die Wände oder auf den Boden geschleudert. Yu zog sich an der Wand nach hoch, seine Beine zitterten.
„War das schon alles?”, fragte Daos Stimme in Yus Kopf. „Ich hätte gedacht, dass du mehr auf Lager hast. Das letzte Mal hast du mich doch mit Links weggeputzt. Was ist mit dir? Oder war das nur Zufall damals?”
„Was tust du mit mir?”, ächzte Yu und hielt sich mühevoll auf den Beinen.
„Ich? Ich tu gar nichts.”
„Ich kann meine Kräfte nicht einsetzen. Ich kann mich nicht verteidigen und nicht angreifen.”
„Nein, das bin nicht ich. Du bist es, der deine Kräfte blockiert.”
„Was?”
„Dein Unterbewusstsein hindert dich am Angriff. Dein Kopf weiss, dass das nicht der echte Ri ist. Er weiss auch, dass dieses Wesen nichts fühlt, wenn es angreift, dass es nur einem Befehl gehorcht. Dein Herz sieht aber nur deinen Bruder. Du bist im Zweifel, ob dein Bruder dich wirklich liebt. Das hemmt deine Kräfte.”
Yu bekam wieder einen Tritt in den Magen. Röchelnd sank er zu Boden. Yu kniete schwer atmend am Boden und presste die Arme an den Bauch. Er hustete. Blut quoll aus seinem Mund und tropfte zu Boden.
Yus blutverschmierte, zitternde Lippen bewegen sich langsam. Wie ein schwächlicher Windhauch drangen die Worte über seine Lippen.
„Ri, hilf mir, Bitte”, flüsterte Yu.
Aber Ri kam nicht. Keiner kam um Yu zu helfen. Der falsche Ri packte Yu am Kragen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die nächste Hauswand. Yu prallte seitlich gegen die Backsteinwand. Der falsch Ri klammerte seinen Griff noch etwas enger um Yus Kragen und warf ihn bäuchlings auf den Boden. Der falsche Ri drückte Yus Schulter mit einem Knie auf den Boden. Yus linken Arm hielt er ausgestreckt von sich weg und stemmte das andere Knie dagegen. Ein lautes Knacken schallte durch die Stille der Nacht. Yu schrie vor Schmerzen.
„Schade”, sagte Dao, der aus einiger Entfernung alles beobachtete hatte. „Ich hatte gehofft, dass er sich wenigsten ein bisschen wehrt. Tja, was soll man machen? Ich hab mich wohl gründlich in ihm geirrt.”
Dao gab seinem Sklaven den Befehl, Yu aus dem Weg zu räumen.
Yu lag am Boden, den linken Arm gegen den Körper gepresst und mit dem rechten umklammert. Ris Abbild packte Yu und hob ihn hoch, bis seine Füsse knapp über dem Boden schwebten. Langsam ging er über die Strasse zum Fluss.
Der falsche Sklave streckte den Arm aus. Yu schwebte über dem Fluss. Das Rauschen des Wasser dröhnte in seinen Ohren. Yu krallte sich an der Hand fest, die seinen Kragen umklammerte. Er kratzte ihn, in der Hoffnung, er würde ihn wieder absetzten. Es half nichts.
Yus Herz pochte in seiner Brust wie ein Vorschlaghammer.
Der falsche Ri öffnete die Finger. Yu stürzte hinunter und prallte auf der Wasseroberfläche auf. Yu konnte sich nicht über Wasser halten und versank in den Fluten. Das Letzte, was Yu noch wie durch einen Schleier wahr nahm, war Ris Gesicht, das ihn grimmig ansah. Plötzlich schien alles in roten Flammen aufzugehen. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, als wenn etwas schweres ins Wasser geworfen worden wäre. Dann wurde Yu von der Dunkelheit eingehüllt.
Alles war dunkel. Yus Körper fühlte sich seltsam schwer an. Er war zu sich gekommen. Er fühlte, wie Luft in seine Lungen gepresst wurde und wie danach etwas schweres pulsierend auf seiner Brust lastete. Yu musste husten und spuckte dabei einen Schwall Wasser aus. Leise stöhnend öffnete er die Augen.
Erst war alles verschwommen, wie wenn er immer noch durchs Wasser blicken würde. Dann formten sich die schemenhaften Schatten langsam zu ganzen Gestalten. Das erste, was er sah, war Ris Gesicht. Yu zuckte zusammen, dann erkannte er aber, dass es diesmal der echte war.
Ris Gesicht war verzerrt vor Anstrengung. Er schwitzte, und die Fransen seines feuerroten Haares klebten ihm im Gesicht. Seine Hände hatte er gekreuzt auf Yus Brust gelegt und stemmte sich mit seinem gesamten Körpergewicht darauf. Als er gemerkt hatte, dass Yu zu sich gekommen war, löste er sofort den Griff und hob seinen Oberkörper sachte an.
„Alles in Ordnung?”, fragte Ri behutsam.
Yu nickte hustend.
„Was fällt dir eigentlich ein einfach so wegzulaufen? Ich war krank vor Sorge.”
„Tut mir leid”, sagte Yu unter leisem Stöhnen. „Ich weiss auch nicht. Ich war so wütend. Ich hab mich nicht mal geachtet, wo ich hinging und plötzlich war ich hier.”
Yu verzog das Gesicht und griff nach seinem linken Arm. Der Arm schmerzte höllisch.
„Zeig her”, sagte Ri und hob Yus Arm vorsichtig hoch.
Sanft fuhr er mit der Hand über den geschwollenen Arm und tastete ihn mit seinen Fingern ab. Yu verkniff das Gesicht vor Schmerzen.
„Gebrochen”, murmelte Ri.
„Tut mir leid, aber ich kann mich kaum bewegen.”, stöhnte Yu.
„Schon gut, lass dir Zeit.”
Ri lehnte sich an einen nahen Baumstamm und lehnte Yus Oberkörper gegen seine Knie. Ri seufzte erleichtert. Er war nur froh, dass endlich alles ein Ende hatte. Yu aber begann zu weinen.
„Was ist denn los?”, fragte Ri ein bisschen erschrocken. „Tut es denn so weh?”
„Nein, es ist nicht deswegen”, sagte Yu matt während ihm die Tränen links und rechts die Wangen runterliefen. „Ich konnte mich nicht wehren. Ich konnte nicht angreifen. Ich wusste, dass er lügt aber trotzdem hatte ich Zweifel.”
„Illusionsmagie ist eine schreckliche Sache. Wenn in deinem Herzen irgendwo Zweifel oder Furcht sitzt, egal wie klein es auch sein mag, kann es gefunden werden. Die Zweifel und ängste können geschürt und genährt werden. Und dann, durch eine Illusion, geschaffen aus den eigenen ängsten, werden sie zum Ausbruch gebracht. Weisst du, Angst und Verzweiflung lähmen die Kräfte eines Guardians.”
„Wo ist er hin?”
„Wer?”
„Die Illusion, die Dao von dir geschaffen hatte.”
„Ich habe sie wieder zu dem verarbeitet, woraus sie gemacht war, zu einem schlechten Traum.”
Beide schwiegen eine Zeit lang. Langsam zogen Wolken am Himmel auf und verdeckten langsam die Sterne. Yu dachte nach. Jetzt wo er über alles nachdachte, was geschehen war, nagte der Zweifel stärker an ihm, als je zuvor.
„Erinnerst du dich noch, als Xies Verlobter zu uns gekommen war?”, fragte Ri plötzlich.
„Ja”, antwortete Yu, dem die Frage völlig aus dem Zusammenhang gerissen vor kam.
„Er hat mich doch gefragt, warum ich ausgerechnet Kinderarzt geworden bin.”
„Ja, und du hast ihm die Geschichte mit dem Jungen erzählt.”
„Ich hab aber Etwas verschwiegen.”
„Was denn?”
„Der Junge wäre vermutlich gestorben, wenn er nicht rechtzeitig Hilfe bekommen hätte. niemand war da. Wir waren ganz allein. Ich hatte Angst, dass er in meinen Armen sterben würde. Mir kam das alles damals viel extremer vor, als es eigentlich war. Ich wollte dieses Gefühl aber trotzdem nie wieder haben müssen. Das Gefühl, dass ich nicht helfen kann. Darum bin ich Arzt geworden, um zu helfen. Um ihm zu helfen.”
Yu verstand nicht. Was hatte die Geschichte mit der jetzigen Situation zu tun.
„Warum erzählst du mir das?”, fragte Yu.
Ri sah zum Himmel hoch. Er senkte den Blick und sah Yu in die Augen.
„Yu”, sagte Ri, „der Junge damals, das bist du gewesen.”
„Ich?!”, rief Yu.
Ri lächelte sanft.
„Ja, ich hab dich damals an deiner Halskette erkannt.”, sagte er.
Yu war völlig baff. Er war der Grund, weshalb Ri Arzt geworden war.
„Ri”, fragte Yu nach ein paar Minuten, „Wenn du mich schon vorher gefunden hast, warum hast du mich denn nie besucht?”
Ri überlegte, was er sagen sollte.
„Weißt du”, begann er schliesslich, „als man uns getrennt hat, hat man unsere Gedächtnisse gelöscht. Ich konnte mich nicht an dich erinnern. Aber ich hatte das Gefühl, dass uns etwas verband.”
„Und du hast dich erst vor ein paar Monaten wieder an mich erinnert?”
„Nein, nicht ganz. Das war schon länger der Fall, ich hatte nur irgendwie nicht den Mut dich anzusprechen.”
Yu sah Ri verwundert an. Ris Wangen waren leicht rosa geworden. Yu kicherte. Irgendwie war der Zweifel von ihm gewichen. Er fühlte sich so sicher und geborgen. Er wollte gar nicht mehr aufstehen, nur hier liegen bleiben, in Ris Armen.
„Hey, nicht einschlafen”, sagte Ri und schüttelte Yu leicht. „Wenn du schlafen willst, sollten wir besser nach hause gehen.”
Yu öffnete die Augen und sah zum Himmel. Der Himmel war immer noch wolkenverhangen. eine kleine Schneeflocke segelte von den grauen Wolken hinunter und landete Auf Yus Gesicht. Sie schmolz sofort. Yu wischte sich mit dem ärmel übers Gesicht. Weiter Schneeflocken folgten.
„Es schneit”, sagte Yu leise.
„Ja”, antwortete Ri, „der erste Schnee in diesem Jahr. Gehen wir lieber nach hause bevor wir hier noch erstarren.”
Ri stand auf und zog Yu hoch. Yu knickte aber wieder ein. Dann nahm Ri ihn huckepack auf den Rücken und trug ihn nach hause.
Yu legte seinen gesunden Arm um Ris Schulter und hielt sich an ihm fest. Sein gebrochener Arm hing schlaff an seiner Seite. Seinen Kopf legte Yu an Ris Rücken und noch bevor sie daheim waren, war Yu eingeschlafen.
Als Yu am nächsten Tag wieder zur Schule ging, trug er den linken Arm eingegipst in einer Schlinge. Ri hatte es entschieden abgelehnt, dass Shui den Arm heilte. Er meinte, es sollte Yu eine Lektion sein, nicht einfach abzuhauen. Er hatte allerdings persönlich dafür gesorgt, dass der Arm anständig behandelt wurde.
Shiro sah Yu von der Seite an.
„Geschieht dir recht”, sagte sie ohne jedes Mitleid.
„Was?”, fragte Yu der sich gerade hinter seinen Pult gesetzt hatte.
„Das musste ja so kommen, wenn du von Zuhause wegläufst und dich mit irgendwelchen Roadies prügelst.”
Yu sah Shiro wehmütig an.
„Ich hab mich nicht geprügelt, ich bin verprügelt worden.”
„Was treibst du dich auch so spät in so einer Gegend rum. Hast Glück gehabt, dass dein Bruder aufgetaucht ist.”
„Meine Brüder haben mir schon genug Standpauken gehalten, da musst du mich nicht auch noch zusammenstauchen. Ich dachte, dass du wenigstens ein kleines bisschen Mitleid hättest.”
Yu legte seinen Kopf auf die Tischplatte und seufzte leise. Er hatte letzte Nacht nicht grad viel geschlafen.
Yu spürte, wie jemand seinen Kopf kraulte. Er sah auf. Shiro hatte ihren Stuhl an Yus Pult gerückt und lächelte. Es war ein sanftes, warmes, ein bisschen mitleidiges Lächeln, so wie Yu es von Ri kannte.
Shiro zog Yus Gipsarm zu sich ran und holte einen schwarzen Filzstift hervor. Sie beugte sich über Yus Arm und schrieb ihren Namen drauf, ganz sorgfältig, in schöner Schrift und mit einem Herzchen auf dem I.
Im Laufe der Zeit unterschrieben noch mehrere Leute auf Yus Gips. Shui, Xie, Ri, Mako, sogar Taki und alle aus dem Unterricht in der Welt der Guardians. Aber am besten gefiel ihm Shiros Unterschrift, und das lag nicht an ihrer schönen Handschrift. Er hatte sie sogar mit einem roten Herz eingerahmt, was er, wie er sagte, nur getan hatte, weil ihm langweilig gewesen war.

Es war ein wunderschöner Samstagmorgen. Der frische Schnee glitzerte in der Morgensonne. Die ganze Nachbarschaft lag in einem idyllischen Weiss. Yu hatte Schulfrei und konnte deshalb in aller Ruhe mit seinen Brüdern frühstücken.
„Wo ist Xie?”, fragte Ri.
„Sitzt im Zimmer”, sagte Shuis gleichgültig. „Sie ist schon den ganzen Morgen da oben.”
„Was macht sie denn?”
„Woher soll ich das wissen.”
In dem Moment betrat Xie die Küche. Sie hatte vor der Tür irgendwas abgestellt, die Jungs konnten nicht sehen was und sie wollten es eigentlich auch nicht wissen.
Xie setzte sich an den Küchentisch und begann wortlos zu essen.
Die Drei sahen sie verwundert an.
„Guten Morgen, guten Appetit, gut geschlafen?”, sagte Ri mit einem Anflug von ärger in der Stimme.
„Danke, danke und nein”, antwortete Xie.
„Warum nicht?”, fragte Yu.
„Der da redet im Schlaf.”
Xie zeigte ohne aufzusehen auf Shui.
„Stimmt gar nicht!”, verteidigte sich Shui empört.
„Woher willst du das wissen? Hast du dir schon mal beim Schlafen zugehört?”, gab Xie zurück.
Es läutete an der Tür.
„Ich geh schon”, sagte Yu und stand auf.
Yu lief in den Gang und als er gerade um die Ecke bog, stolperte er über einen am Boden stehenden Koffer. Yu stürzte direkt auf seinen linken Arm. Er hatte aber keine Zeit sich über den Koffer Gedanken zu machen, stemmte sich hoch und lief zur Tür. Draussen stand Taki.
„Taki?”, rief Yu überrascht. „Du bist doch nicht schon wieder von Zuhause abgehauen, oder?”
„Nein, nein”, antwortete Taki beschwichtigend, „diesmal weiss mein Vater wo ich bin.”
Yu bat Taki hinein.
„Wie geht's deinem Arm?”, fragte Taki, als er den Gips sah.
„Is halb so schlimm”, sagte Yu.
„Shiro wünscht dir wohl besonders gute Besserung.”
„Shiro? Wie kommst du ausgerechnet auf Shiro?
Yu wurde bei Takis Frage leicht nervös. Taki deutete auf das rote Herz, das Yu um Shiros Namen gezeichnet hatte. Ein Hauch rosa trat in Yus Gesicht.
„Ach übrigens”, sagte Taki, „die Tatsache, dass Ri und Shui deine Brüder sind hat sich in unserer Klasse wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Die können's Kaum erwarten bis du morgen wieder kommst.”
„Was macht ihr zwei da?”, fragte Ri, der gerade in den Flur getreten war.
„Guten Morgen”, sagte Taki munter, „Mein Vater schickt mich. Ich soll euch eine Nachricht bringen.”
„Was für eine Nachricht?”, fragte Shui hastig.
Taki zog eine Schriftrolle hervor und gab sie Shui. Schnell nahm Shui die Schriftrolle an sich und rollte sie aus.
„Yes, das ist super!”, jubelte Shui auf einmal.
„Was ist so super?”, fragte Ri, zog Shui das Papier weg und las laut vor.
Shui Mizuno
Nach intensiven Nachforschungen wird ihre Anmeldung zur diesjährigen Jian- Prüfung hiermit bestätigt.
Wir wünschen viel Erfolg.
Der Rat
„Interessant”, sagte Ri und sah Shui durchdringend an. „Du willst also Jian werden?”
„Ja”, antwortete Shui etwas verlegen und sah auf seine Füsse.
Ri klopfte ihm auf die Schulter.
„Dann streng dich an. Mach mir keine Schande.”
Shui lachte.
„Ich wusste gar nicht, dass man eine Prüfung ablegen muss um Jian zu werden”, sagte Yu.
„Unter anderem”, sagte Ri. „Alle fünf Jahre machen die Jiananwärter eine Prüfung um in diesen Rang zu kommen. Sie müssen allerdings bestimmte Anforderungen erfüllen um für die Prüfung zugelassen zu werden. Wenn sie bestehen, kommen sie in den Rang eines Jian dritten Grades. Einige wenige werden auch ohne Prüfung befördert.”
„So wie Ri”, sagte Shui. „Nachdem er Dao damals besiegt hatte, wurde er gleich zum Jian ernannt.”
„Gibt es verschiedene Jians?”, fragte Yu.
„Ja”, antwortete ihm Shui, „Drei, um genau zu sein. Erster, zweiter und dritter Grad.”
„Aha, ich hab bis jetzt gedacht, dass alle Jians gleich wären. Haben Ri und Xie denn verschieden Ränge?”
„Ja, Ri ist ranghöher. Er ist Jian ersten Grades. Das heisst, Ri ist einer der Ranghöchsten Guardians. Es gibt da zwar noch ein, zwei Ränge die höher sind, aber das ist nicht wichtig.”
„Das reicht jetzt Shui”, sagte Ri energisch. „Danke, dass du extra deswegen gekommen bist Taki.”
„Schon gut”, sagte Taki. „Ich wollte mich eh noch von Xie verabschieden.”
„Verabschieden?”, riefen alle drei im Chor.
„Was soll das heissen?”, fragte Shui.
„Soll heissen, ich verschwinde”, sagte Xie, die hinter ihnen stand.
„Wie meinst du das?”, fragte Yu.
„So wie ich's gesagt hab. ich mach mich aus dem Staub.”
„Aber das kannst du nicht”, sagte Ri.
„Doch, kann sie”, sagte Taki. „Sie hat gestern bei meinem Vater um eine Versetzung gebeten. Und er hat eingewilligt.”
„Dann willst du wirklich fort Xie?”, fragte Ri.
„Ich muss, ich will, ich werde gehen.”
Xie warf sich ihre Jacke über die Schultern, packte ihren Koffer, über den Yu zuvor gestolpert war und lief an ihnen vorbei. Xies Jacke blieb hängen. Als sie sich umdrehte sah sie, dass Yu nach ihrer Jacke gegriffen hatte, um sie zurückzuhalten.
„Geh nicht”, sagte Yu leise.
Xie zog den Zipfel ihrer Jacke aus Yus Hand und ging zur Tür hinaus.
„Xie!”, schrie Shui. „Wir werden nicht zulassen, dass du dich einfach so verziehst!”
„Wer will mich aufhalten? Du?”
Xie wartete gar nicht erst auf eine Antwort und lief trotzig davon.

Xie sass in der grossen Wartehalle des Flughafens. Sie hatte sich auf den Boden gesetzt und las in einem Buch. Ein bisschen betrübt war sie schon, dass sie einfach so mir nichts dir nichts verschwand. Sie stand nun mal nicht auf grosse Abschiede. Auch wollte sie den wahren Grund, weshalb sie gehen wollte nicht verraten.
über Lautsprecher wurde Xies Flug aufgerufen. Sie stand auf, packte ihren Rucksack und ging zum Eingang zum Flugzeug.
Die Stewardess lächelte und bat Xie um ihre Bordkarte. Xie langte in ihre Jackentasche. Ihre Karte war nicht da. Xie durchsuchte ihre Jacken- und Hosentaschen und ihren Rucksack. Die Karte blieb verschwunden.
In Xie brodelte es. Sie wusste genau, wo ihre Karte abgeblieben war.
Yu sass mit Shui im Wohnzimmer und liess sich gerade bei den Mathehausaufgaben helfen. Das hätte er mal besser bleiben lassen, denn Shui verstand von Mathe etwa soviel, wie von Kernphysik, gar nichts.
Plötzlich sprang die Haustür auf und eine wilde Bestie, die Yu irgendwie bekannt vor kam, stürmte ins Wohnzimmer.
„SHUI!!!”, schrie Xie so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten mussten.
„Willst du die Schallmauer durchbrechen?”, fragte Shui. „Was machst du eigentlich hier? Geht dein Flieger nicht in ner Viertelstunde?”
„WO - IST - MEINE - BORTKARTE?!!!”
„Bordkarte, Bordkarte. So ne blau-weisse Karte? Einmal Tokyo - Paris, erste Klasse, ohne Rückflug. Meinst du so was?”
„Ja, die meine ich!”
„Du redest also von dem Papierfetzen, den ich dir auf der Jackentasche gemopst hab?”
„Ja, verdammt! Wo ist sie?!”
„Hab ich zerrissen.”
„WAS?!”
„Ich hab dir doch gesagt, dass du mir nicht so leicht davon kommst.”
„Auch egal.”
Shui und Yu sahen Xie verwundert an, die ihnen trotzig den Rücken zudrehte.
„Wie bitte?”, fragte Shui.
„Ich kauf mir einfach ne neue Bordkarte. Diesmal aber gleich am Flughafen. Also dann, lebt wohl.”
Mit diesen Worten trat Xie erneut aus dem Haus und verschwand in Richtung Flughafen.
Xie bekam noch ein Ticket für die nächste Maschine. Sie ging erst in zwei Stunden, also hatte Xie fiel zeit zum lesen. Wieder sass sie im Warteraum. Die zwei Stunden verstrichen endlos langsam. Xie wunderte sich ein bisschen, dass noch keiner der Drei etwas unternommen hatte. Sie war enttäuscht dass sie schon aufgegeben hatten. Xie sah auf die Uhr. Es waren nur noch fünfzehn Minuten bis die Maschine startete.
Plötzlich kam eine Durchsage über Lautsprecher: „Sehr geehrte Damen und Herren. Wir bedauern ihnen mitteilen zu müssen, dass aufgrund starker Schneestürme kein Flugzeug mehr Start- oder Landeerlaubnis bekommen kann. Wir danken ihnen für ihr Verständnis.”
Xie sah aus dem Fenster. Ein Schneesturm tobte draussen. Alles war weiss, von der Umgebung war nichts mehr zu sehen. Xie spürte starke Energien, die in die Umgebung geflossen waren. Das war kein Natürlicher Schneesturm.
Wider wurde die Tür zu Ris Haus aufgestossen. Wind und Schnee wirbelten ins Haus. Mit Mühe drückte Xie die Tür hinter sich zu.
Wütend stapfte sie ins Wohnzimmer. Yu sass auf dem Sofa. Den Kopf gegen Ris Schultern gelehnt. Yu atmete schwer, er war blass und schwitzte leicht. Er sah aus als hätte er einen längeren Marathon hinter sich.
„Guten Tag Xie”, sagte Ri, der den Arm um Yu gelegt hatte.
„Wer war das?”, fragte Xie schnaubend.
„Sie mich nicht so an, ich kann nicht gut mit nassen Dingen.”
„Ich habe meine Liebe Mühe mit dem Wind”, sagte Shui verteidigend.
Xie sah Yu an. Dieser lachte nur und hob die Hand zum Victorizeichen.
„Du warst das?”, sagte Xie verwundert. Yu nickte.
„Respekt. Das nützt euch aber wenig.”
„Heute geht kein Flug mehr”, sagte Yu atemlos.
„Der Sturm dürfte noch bis morgenfrüh anhalten”, sagte Shui. „Dann müssen sie das Rollfeld erst räumen und die Maschinen enteisen. Es dürfe etwa ein, zwei Tage dauern bis alles wieder flott ist. Bis dahin ist uns sicher was eingefallen.”
„Du vergisst, dass es noch andere Wege gibt um das Land zu verlassen”, sagte Xie bissig.
„Wie denn? Mit dem Zug?”
„Das Schiff.”
„Willst du das wirklich riskieren? Du weisst, Wasser ist mein Element.”
„Weisst du was, das ist mir scheissegal.”
Wieder drehte sich Xie wortlos um und schlug die Haustür hinter sich zu. Shui grinste breit.
„Mal sehen, was wir Jetzt machen”, sagte er und stand auf.
„Gar nichts”, sagte Ri ernst.
„Wie? Wieso nicht?”
„Ihr habt für einen Tag schon genug Unheil angerichtet. Ihr das Ticket klauen geht ja noch aber mit dem Schneesturm habt ihrs übertrieben. Ihr bringt so nur Unschuldige in Gefahr.”
„Wer bringt hier wen in Gefahr? Wir haben bewusst dafür gesorgt, dass niemand zu Schaden kommt.”
„Das hast du in Indien auch gesagt.”
Shui wurde rot. Die Erwähnung Indiens schien ihm peinlich zu sein.
„Das war ein kleiner Ausrutscher”, sagte Shui kleinlaut.
„Ausrutscher?”, sagte Ri sarkastisch. „Du hast ein ganzes Dorf mit samt Umgebung unter Wasser gesetzt. Kannst von Glück sagen, dass keiner zu Schaden gekommen ist.”
„Ich hab doch damals schon gesagt, dass es mir leid tut.”
„Ich würd ja nichts sagen, aber das alles wegen einem Mädchen.”
„Ein Mädchen?”, fragte Yu überrascht.
„Ja, ein Mädchen”, antwortete Ri schnippisch.
„Was ist denn passiert?”
„Wir waren zu einem Spezialauftrag in Indien eingeteilt. Wir sollten ein Dorf, das regelmässig von Dämonen heimgesucht wurde, zu „säubern”. Das war das erste mal, dass Shui und ich zusammen gearbeitet haben. Ich hab's schon am ersten Tag bereut, ihn ins Team aufgenommen zu haben. Kaum waren wir angekommen, da machte er sich schon an die Mädchen im Dorf ran. Natürlich verknallte er sich gleich in die Dorfschönheit. Nur sie, war in einen Anderen verliebt. Shui wurde unheimlich eifersüchtig. Als es dann dran ging, die Dämonen auszuschalten, hat Shui sich etwas übernommen. Er wollte seine Auserwählte beeindrucken und hat es gnadenlos übertrieben. Er hat das ganze Dorf überschwemmt.”
Yu klappte der Mund auf.
„Und was ist dann passiert?”, fragte Yu begierig.
„Na ja, wir haben zwei Tage lang Aufräumarbeit geleistet. Nachdem ich mich vor dem Rat tausendmal für Shuis Patzer entschuldigt habe, hat sich der Rat zu einer Verwarnung durchgerungen.”
„Und das alles nur wegen einem Mädchen?”
„Ja, leider. Ich krieg heute noch ne Krise, wenn ich daran denke.”
Ri schüttelte den Kopf.
„Immerhin, sie war die Schönste im Dorf und die Tochter des Dorfoberhaupts”, verteidigte sich Shui. „Ausserdem, bin ich nicht der einzige, der mal Mist gebaut hat. Oder hast du die Sache in Kalifornien schon vergessen?”
„Nein, keineswegs.”
„Was war denn in Kalifornien?”, fragte Yu neugierig.
„Er hat nen Waldbrand verursacht.”
„Das war ein Jahr nachdem ich Guardian geworden bin”, sagte Ri zu Yu gewandt. „Ich sollte einen durchgeknallten Dämon in den Wäldern von St. Monica stellen. Der Typ war extrem stark. Ich hatte grösste Mühe mich gegen ihn zu verteidigen, geschweige denn ihn zu fangen. Unsere Angriffe prallten gegeneinander. Ein Querschläger löste schliesslich den Brand aus. Aber im Gegensatz zu Shui, kann ich meine Kräfte kontrollieren. Ich hatte den Brand schon wieder gelöscht, bevor er die Gelegenheit hatte sich auszubreiten. Und bei mir war schliesslich auch keine Frau im Spiel.”
Yu krümmte sich vor lachen. Er wurde von seinem Lachanfall derart durchgeschüttelt, dass er vom Sofa fiel und sich unter dem Couchtisch kugelte.
„Ein Mädchen”, rief Yu in einem Kicheranfall. „Das alles nur wegen einem Mädchen. Das ist nicht zu fassen!”
„Schön, dass dich das ganze so amüsiert”, sagte Shui gehässig.
„Tja, Shui ist halt ein Weiberheld”, sagte Ri seufzend. „Es gibt kein Mädchen, das er nicht anbaggert. Und auch keins, das nicht auf ihn hereinfällt.”
„Bis auf Xie”, sagte Yu und versuchte einen erneuten Lachanfall zu unterdrücken.
„Wer sagt, dass ich Xie je angebaggert hab?”, rief Shui empört.
„Na hör mal”, sagte Ri mit einem verschmitzten Grinsen. „So wie du sie manchmal ansiehst.”
„Ach, du siehst Gespenster.”
Ri sah Shui mit einem durchdringenden Blick an. Shui wich nervös Ris Blicken aus.
„Ha, du wirst ja rot!”, rief Ri neckisch.
„Tu ich gar nicht!”
„Und ob, knallrot, wie ne Tomate.”
„Was machen wir jetzt eigentlich wegen Xie?”, fragte Yu ernst, während Ri noch versuchte Shui aufzuziehen.
„Gute Frage”, sagte Shui.
„Wie ich schon gesagt hab”, sagte Ri, und sein Gesicht wurde ernst. „Ihr macht gar nichts mehr”

Xie stand am Hafen von Tokyo. Der Schneesturm hatte sich ein bisschen gelegt. Es schneite zwar immer noch aber die Wolkendecke riss auf und liess an manchen Stellen schmale Streifen fahlen Sonnenlichts durch. Xie hatte sich entschlossen das Schiff nach China zu nehmen und von dort aus mit dem Zug weiter zu reisen. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie den Mann, der nach ihr rief, erst nach einer Weile bemerkte.
Ri kämpfte sich durch die Menge zu Xie hinüber.
„Langsam hab ich die faxen von euch dick!”, sagte Xie gehässig.
„Keine Sorge”, sagte Ri beschwichtigend. „Du willst gehen, ich halte dich nicht auf.”
„Du vielleicht nicht.”
„Die anderen auch nicht. Ich habe sie zur Vernunft gebracht.”
„Bist du sicher?”
„Ja, ganz sicher. Aber, wie wär's mit ner kleinen Umarmung zum Abschied?”
Ri breitete die Arme ein bisschen aus und lächelte liebevoll. Xie sah ihn unsicher an.
„Na gut”, sagte Xie. „Aber nur kurz.”
Xie ging zögernd auf Ri zu. Ri drückte Xie an sich. Xie war unbehaglich. So viel körperliche Nähe vertrug sie nicht.
Xie sah über Ris Schulter. Yu und Shui standen in einiger Entfernung zu ihnen am Pier. Yu mied Xies Blick und sah betrübt aufs Meer hinaus. Shui hingegen sah Xie direkt in die Augen. in seinem Blick lag etwas, das Xie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war weder Trauer noch Schmerz und auch keine Wut. Aus seinem Blick sprach ein Gefühl, für das Xie keinen Namen kannte. Xie wandte sich ab. Sie merkte nicht, dass sie leicht rot anlief.
Sofort stiess sie Ri von sich.
„So, das muss jetzt reichen”, sagte Xie und wandte ihren Blick auch von ihm ab. „Und jetzt geh ich.”
„Tu dir keinen Zwang an”, sagte Ri grinsend. „Shui und Yu werden zwar ein bisschen enttäuscht sein, dass ihre Bemühungen umsonst waren.”
„Sie denken halt nicht weit genug um mich zu schlagen. Aber hartnäckig sind die Jungs schon.”
Ri neigte sich ganz dicht zu Xie, wie wenn er sie küssen wollte. Sein Gesicht berührte fast ihres.
„Vergiss nicht, ich bin auch einer der Jungs”, flüsterte Ri Xie leise ins Ohr.
Ri richtete sich auf, drehte sich um und grinste Xie mit einem Gesichtsausdruck, den sie überhaupt nicht einordnen konnte, über die Schulter hinweg an.
Xie drehte sich um und rannte los, um ihr Schiff nicht zu verpassen. Plötzlich hörte sie Ris Stimme hinter sich rufen: „Polizei! Die Frau da hat mein Brieftasche gestohlen!”
„Was?!”, rief Xie und drehte sich abrupt um, um nach dem vermeintlichen Brief Ausschau zu halten.
Ein Polizist rannte auf Xie zu und packte sie am Oberarm.
„Hey, was soll das?! Ich bin nicht die Diebin!”, rief Xie empört.
„Ach ja?”, sagte der Polizist. „Und was ist das?”
Der Polizist griff in Xies Jackentasche und zog eine Brieftasche aus schwarzem Leder heraus.
„Wo kommt die denn her?!”, rief Xie entsetzt.
„Das will ich ihnen sagen”, sagte der Polizist. „Die haben sie dem Herrn da hinten gerade gestohlen.”
Der Polizist zeigte auf Ri, der durch die Menge, die sich zum Schiff drängten, auf sie zu kam.
„Ist das ihre?”, fragte der Polizist und hob die Brieftasche in die Luft.
„Ja, das ist meine”, sagte Ri mit gespielter Erleichterung.
„RI!”, schrie Xie. „Du verdammter Mistkerl, du hast mir die Brieftasche zugesteckt!”
Handschellen klickten. Der Polizist führte Xie ab.
„Das hat Konsequenzen, das schwör ich dir!”
Ri grinste nur schräg und ging zu seinen Brüdern, die ihn mit einer Mischung aus erstaunen und Entsetzen anstarrten.
„Ri”, rief Yu. „Du hast grad Xie aufs Kreuz gelegt.”
„Aber hallo”, sagte Shui nicht minder erstaunt. „Es stimmt anscheinend, stille Wasser sind tief. Das hätte ich dir nie zugetraut, Bruder.”
„Meinst du, du bist der einzige in der Familie mit flinken Fingern”, sagte Ri beiläufig.
„Was machen wir denn jetzt mit Xie?”
„Gehen wir erst mal nen Kaffe trinken, dann sehen wir weiter.”

Ein halbe Stunde später sassen die drei in einem warme Cafe, tranken Kaffe und beratschlagten, was sie nun tun sollten.
„Also eins ist klar”, sagte Ri. „Mit guten Worten allein kriegen wir Xie nicht dazu, hier zu bleiben.”
„Stimmt”, sagte Shui nachdenklich.
Yu sah zum Fenster hinaus. Sein Sturm wurde immer schwächer. Mittlerweile schneite es nur noch bei wolkenverhangenem Himmel.
Wie er so zum Fenster hinausträumte, sah er plötzlich eine Gestalt, die durch das Schneegestöber aufs Cafe zu kam. Die Person trug eine Kapuze und hatte einen dunkelblauen Schal vor dem Gesicht. Nur die dunkeln Augen waren zu erkennen. Yu erkannte die Augen sofort. Es war seine Mitschülerin Shiro. Shiro warf die Kapuze zurück, zog sich den Schal vom Gesicht weg und holte tief Luft.
Ri war Yus Blick gefolgt und beobachtete Shiro aus den Augenwinkeln.
„Geh doch hin”, sagte Ri plötzlich.
„Was?”, sagte Yu schnell.
„Na, geh zu ihr und sag doch guten Tag.”
Yu sah zögernd zu Shiro hinüber, die sich nun einen Platz an der Bar suchte.
„Geh schon”, sagte Ri mit ermutigendem Lächeln.
Yu stand auf und trat langsam durch die Tische auf die Bar zu. Yu räusperte sich leise, in der Hoffnung, Shiro würde auf ihn aufmerksam werden. Sie hatte aber den Kopfhörer auf und hörte ihn daher nicht. Yu sah zurück zu seinen Brüdern.
„Scheint nervös zu sein”, sagte Shui.
„Ja, ziemlich”, meinte Ri.
„Mal sehen, ob ich da was drehen kann.”
„Lass stecken, deine Hilfe braucht er nun wirklich nicht.”
Yu nahm seinen ganzen Mut zusammen und stupste Shiro sachte an. Shiro hob den Kopf und sah Yu an.
„Hallo Yu”, sagte Sie überrascht und zog sich die Kopfhörer vom Kopf.
„Hi Shiro”, sagte Yu leise. „Ich hab dich vorhin gesehen und dachte, ich könnte mal Hallo sagen.”
„Das hast du ja jetzt.”
„Und? Geniesst du den freien Tag?”
„Na ja, ich bin schon den ganzen Tag unterwegs. Besorgungen machen. meine Schwester kriegt bei dem Wetter keinen Fuss vor die Tür. Darum musste ich ran.”
„Ja, dieser Schneesturm ist wirklich übel.”
Yu bekam ein schlechtes Gewissen. Dass Shiro wegen seinem Schneesturm Probleme hatte war ihm unangenehm.
„Eigentlich nicht”, sagte Shiro.
„Wie?”, fragte Yu verwundert.
„Ich mag es, wenn's schneit.”
„Wirklich?”
„Ja, allgemein Stürme. Regen, Wind, Blitz und Donner. Das mag ich.”
„Ich auch.”
Yu merkte, wie seine Herz schneller zu schlagen anfing.
„Willst du dich nicht zu uns setzen?”, fragte er und zeigte zum Tisch, wo seine beiden Brüder sassen.
„Warum nicht”, sagte Shiro und sprang vom Barhocker.
Yu ging mit Shiro zu seinen Brüdern zurück. Ri Und Shui begrüssten Shiro freundlich, wobei ein merkwürdig aufmerksamer Ausdruck auf ihre Gesichter trat. Shiro setzte sich neben Yu. „Wo ist eigentlich ihre Freundin Xie?”, fragte Shiro während sie ihre Jacke auszog.
„Sie wollte heute früh abreisen.”, sagte Ri.
„Wie? Sie wollte abreisen? Was heisst, sie wollte?”
Ri erzählte Shiro die ganze Geschichte. Die Sache mit Yus Schneesturm liess er allerdings weg. Shiro lachte als Ri zu erzählen aufgehört hatte.
„Ja, das passt”, sagte sie und versuchte sich wieder zu beruhigen. „Typisch Xie.”
„Woher willst du wissen, was zu Xie passt?”, fragte Shui.
„Na ja, Xie war in den letzten Wochen oft bei mir.”
„Xie war bei dir?”
„Ja, wir haben uns so vor einem Monat haben wir uns in der Stadt getroffen. Wir haben ein bisschen geredet und seit dem, trafen wir uns öfter.”
„Ihr habt euch also öfters getroffen. Was habt ihr denn so gemacht?”
„Xie wollte mir Selbstverteidigung beibringen und irgend so ein esoterischen Kram. Keine Ahnung zu was das nütze sein soll.”
Ri und Shui sahen sich vielsagend an.
„Wie auch immer”, sagte Ri. „Wir sollten uns jetzt eher überlegen, was wir wegen Xie machen.”
„Xies Schwachpunkt”, sagte Shiro.
„Was?”
„Wenn ihr Xies Schwachpunkt kennt, könnt ihr das als Druckmittel einsetzten.”
„Das können wir nicht machen”, sagte Shui. „Das wäre hinterlistig und unfair.”
„Meinst du Xie würde es anders machen?”, sagte Ri und sah Shui schief an.
„Du hast recht.”
„Gut, aber was ist denn nun Xies Schwachpunkt?”
„Sie wettet gern”, sagte Shui beiläufig.
„Wetten?”
„Ja, letzte Woche haben wir ferngesehen, sie wollte plötzlich wetten. Das Telefon hat geklingelt, sie wollte wetten. Jemand war an der Tür, sie wollte wetten. Und das immer um Hausarbeiten.”
„Das ist doch prima”, sagte Shiro. „Dann ist der Wetteinsatz halt, dass Xie hier bleiben muss.”
„Da gibt's nur ein Problem”, sagte Shui bitter. „Xie verliert nie.”
„Dann müssen wir uns halt ein Spiel einfallen lassen, dass sie nicht gewinnen kann”, sagte Ri nachdenklich. „Aber was?”
„Karten”, sagte Yu plötzlich.
„Was?”, fragte Ri nach.
„Ich hab Xie mal mit ein paar Spielkarten hantieren sehen, nicht gerade geschickt. Ich glaube, sie hat nicht grad ne Begabung fürs Kartenspiel.”
„Das trifft sich”, sagte Ri freudestrahlend. „Shui hat ein gutes Händchen, wenn's um Karten geht. Er hat früher mit seinen Freunden vielen Leuten das Geld aus der Tasche gezogen. Allerdings mit gezinkten Karten.”
Shui grinste verlegen.
„Stimmt schon”, sagte er belustigt. „Ich hab nicht nur flinke Finger, ich kann auch gut mit Glücksspielen.”
„Da tun sich ja richtige Abgründe auf”, sagte Yu.
„Also gut”, sagte Ri als er seine Tasse abgestellt hatte. „Gehen wir's an.”
Die Jungs standen auf und liefen aus dem Cafe.
„Komm mit”, sagte Yu zu Shiro, nahm ihre Hand und zog sie, ohne richtig nachzudenken, hinter sich her.

Der Polizist, der die vier in die Wache führte, war ziemlich zerschlagen. Xie sass in einer Zelle, die Handschellen fesselten immer noch ihre Handgelenke.
„Xie”, rief Yu überrascht, „hast du nen Mord begangen oder was?”
„Nein”, antwortete Xie durch ihre zusammengebissenen Zähne, „aber ich werde gleich einen Dreifachmord begehen.”
Xie sah die drei Jungs durchdringend an. Ihr Blick blieb auf Yu uns Shiro haften. Sie grinste. Yu bemerkte, dass er immer noch ihre Hand hielt. Rasch zog er seine Hand zurück.
Der Polizist liess sie allein. Ri trat zu Xie heran.
„Wir haben ein Angebot für dich, Xie”, sagte er und grinste.
„So, was denn?”, sagte Xie und spielte Neugier.
„Eine kleine Wette. Du spielst gegen Shui ne kleine Partie Karten. Wenn du gewinnst, tragen wir dir die Koffer zum Flughafen.”
„Und wo ist der Hacken?”
„Wenn du verlierst, bleibst du hier bei uns.”
Xie willigte ein. Einer Wette konnte sie einfach nicht wiederstehen.
Xie und Shui sassen sich gegenüber. Beide sahen abwechselnd konzentriert auf ihre Karten und einander in die Augen. Am Anfang sah es ganz danach aus, dass Xie gewinnen würde. Shui riss das Ruder aber nach einer halben Stunde Spiel rum und beendete das Spiel zehn Minuten später als Sieger.
„Puh, das war aber knapp”, sagte Yu. „Ich dachte schon du verlierst wirklich.”
„Ich verliere nie beim Kartenspiel”, sagte Shui und zog eine Spielkarte aus seinem ärmel.
„Shui!”, schrie Xie, die unmittelbar hinter ihnen stand. „Du hast beschissen!”
„Beschissen ist so ein hartes Wort. Ich hab nur die Regeln ein bisschen gedehnt.”
„Ich dehn gleich dich.”
Shui lächelt, drehte sich um und rannte davon. Xie hinterher. Yu glaubte gesehen zu haben, dass Xie lächelte, als sie an ihm vorbeirannte.
„Läuft es immer so in eurer Familie?”, fragte Shiro.
„Was meinst du damit?”, fragte Yu.
„Na, ist es immer so chaotisch?”
„Du hast ja keine Ahnung. Das ist bei uns an der Tagesordnung.”
Xie war etwas runter gefallen. Ri bückte sich und hob es auf. Er seufzte.
„Also, wenn man die Intelligenz mal ausser Acht lässt, dann kann man sagen: die beiden sind genau gleich”, sagte er kopfschüttelnd.
In der Hand hielt er eine Spielkarte, die Xie aus dem ärmel gerutscht war.

Es vergingen einige Tage in nicht ganz völliger Ruhe. Die Freude darüber, dass Xie nun doch nicht ging, verflog schnell. Denn Xie war drauf und dran Haus und Garten in seine Bestandteile zu zerlegen. Praktisch jeden Tag musste Ri etwas reparieren und das Gedächtnis der Nachbarn löschen. Der Grund dafür war Shui. Seit er Xie beim Kartenspiel besiegt hatte, wurde er immer dreister. Er schämte sich nicht mal mehr Xie einfach so zu küssen, wenn sie aneinander vorbei gingen.
Yu war mittlerweile seinen Gips los geworden. Ein bisschen schade hatte er es schon gefunden, als Ri ihm im Krankenhaus den Gips abgenommen hatte.
Nach einer Prüfung in Erdkunde, bei der Yu kein besonders gutes Gefühl hatte, setzte sich Yu in der Pause mit Shiro zusammen.
„Ich glaube, Nummer fünf hab ich falsch beantwortet”, sagte Yu mit einem Blick in sein Erdkundeheft.
Shiro sagte nichts. Sie starrte nur auf den Boden und summte vor sich hin.
„Hey, Shiro”, rief Yu und stupste sie an, „stimmt etwas nicht?”
„Nein, alles in Ordnung”, sagte Shiro. „Ich musste nur grad an meine Freundin in Osaka denken.”
„Deine Freundin?”
„Ja, weißt du, früher haben wir zusammen immer eine Pyjamaparty gemacht. Wir hatte viel Spass zusammen. wir haben lange ferngesehen, Spiele gespielt, Süsses gegessen, wir haben Kissenschlachten veranstaltet und sind rumgetobt bis wir völlig erschöpft waren. Aber seit wir vor sechs Jahren aus Osaka weggezogen sind, habe ich nie wieder so was gemacht.”
Shiro seufzte. Sie sah traurig aus. Yu hätte sie gerne ein bisschen aufgeheitert, aber er wusste nicht wie. Da kam ihm auf einmal eine Idee.
„Kommt ja gar nicht in Frage”, sagte Ri bestimmt, als Yu nach hause gekommen war.
„Bitte, Ri”, sagte Yu flehentlich. „Bitte, bitte, bitte.”
„Es bleibt dabei, nein.”
„Komm schon. Sein nicht so.”
„Das ist unverantwortlich.”
Ri verschränkte nun die Arme und stellte sich hoch aufgerichtet vor Yu hin.
„Ich tu auch sicher nichts, was uns verraten würde, und ich bin sicher, dass Shui und Xie sich einen Abend lang zusammenreissen werden.”
„Darum geht's mir nicht. Yu, ein Junge und ein Mädchen in eurem Alter, nachts allein in einem Zimmer, das kann ich nicht verantworten.”
„Also hör mal. Wir sind ja wohl beide alt und vernünftig genug für so was. Es ist doch nur eine Pyjamaparty. Och bitte, es bedeutet Shiro so viel.”
„Du tust es also nur für Shiro?”
„Ja... na ja... okay es ist auch ein bisschen wegen mir. Ich möchte einfach gerne mal mit Shiro zusammen sein, ohne dass gleich fünfzig andere Menschen um uns rumwieseln.”
„Aha, interessant.”
„Ri, bitte. Ich hab's Shiro doch versprochen. Ich mach auch eine Woche lang den Abwasch. Bitte!”
„Ich bin immer noch nicht ganz überzeugt.”
„Ich bitte dich. Sag doch ja. Du hast doch selbst gesagt, dass ich Shiro jeder Zeit einladen darf. Sie bleibt halt nach dem Essen einfach noch ein bisschen.”
Ri grinste, drückte Yu den Putzschwamm in die Hand und sagte: „Aber blitz blank, wenn ich bitten darf.”
„Heisst das jetzt ja?”, fragte Yu unsicher.
„Ja natürlich, aber bleibt ja artig.”
Yu sprang jauchzend in die Luft und umarmte Ri.

Der besagte Samstag kam schneller als Yu erwartete hatte. Er raste schon den ganzen Tag wie ein Irrer durchs Haus. Er ging Treppe auf, Treppe ab. Lief im Wohnzimmer auf und ab. Ging wieder in sein Zimmer. Kam nach ein paar Minuten wieder runter. Sah durch alle Fenster, von denen er auf die Strasse blicken konnte. Lief wieder im Kreis um den Esstisch. Und so ging es den ganzen Tag weiter.
Ri, Shui und Xie sassen zusammen in der Küche, die war der einzige Raum, wo Yu nicht alle fünf Minuten rumspazierte.
„Wenn er noch länger so in der Gegen rumläuft, gibt's im Wohnzimmer keinen Boden mehr”, sagte Shui und beobachtete Yu, der gerade wieder im Korridor auf und ab lief.
„Wie viele Kilometer der wohl schon abgelaufen ist?”, sagte Xie.
„Zehn mindestens. Wenn er so weitermacht, läuft er noch heiss.”
„Wenn er zu qualmen anfängt, ist nicht mehr gut.”
„Vielleicht sollten wir ihn mal rausstellen, so zum abkühlen.”
„Das kannst du auch ohne Rausstellen haben.”
„Seid mal still ihr zwei”, sagte Ri. „Damit das klar ist, keine Scherze oder blöde Sprüche heute. Das gilt besonders für dich Shui.”
Es läutete an der Tür.
„Ich geh schon”, rief Yu kaum eine Sekunde nach dem Klingeln.
Er spurtete in den Flur und kam schlitternd vor der Tür zum stehen. Er fuhr sich noch mal mit der Hand durch die Haare und öffnete dann die Haustür. Shiro stand draussen. Sie hatte eine grosse Tasche geschultert und lachte.
„Also, da bin ich”, sagte sie.
„Ja, schön”, sagte Yu und grinste verlegen.
„Na, willst du sie nicht rein lassen?”, rief Ri, der in der Tür zur Küche stand.
Yu trat mit leicht errötetem Gesicht bei Seite und liess Shiro eintreten. Während Yu die Haustür wieder schloss, stellte Shiro ihre Tasche an der Garderobe ab.
„Hast du nicht was vergessen?”, sagte Ri und grinste schräg.
„Was denn?”, fragte Yu, der sich nicht vorstellen konnte, dass er was vergessen haben sollte.
„Als Gentleman nimmt einer Dame die Jacke ab.”
Yu trat sofort hinter Shiro und packte den Kragen von Shiros Jacke, die sie gerade hatte ausziehen wollen. Shiro lachte, als Yu ihr die Jacke von den Schultern zog.
„Tust du eigentlich immer, was Ri dir sagt?”, fragte sie.
Yu wurde noch röter im Gesicht.
„Das ist kein Vorsagen, das ist Erziehung in der Praxis”, sagte Ri lachend. „Ich will doch nicht, dass Yu zu einem zweiten Shui mutiert.”
„Hier mutiert gar nichts”, sagte Yu, der gerade dabei war Shiros Jacke an einen Kleiderbügel zu hängen.
Aus der Küche war ein Klirren zerbrochenen Glases zu hören.
„Ich glaube da mutiert gleich ne Katastrophe”, sagte Ri mit einem leidigen Gesichtsausdruck. „Macht's euch im Wohnzimmer gemütlich. Hilfe, ich geh lieber bevor meine Küche total demoliert ist!”
Yu lächelte verlegen. Das konnte ja noch heiter werden.
Aus der Küche war ein Poltern zu hören. Nach ein paar Minuten kamen Shui und Xie ins Wohnzimmer.
„Was war denn los?”, fragte Yu.
„Ri hat uns aus der Küche geworfen”, antwortete Shui und liess sich neben Shiro auf dem Sofa nieder. „Schön dass du uns mal wieder besuchst Shiro.”
„Find ich auch”, sagte Shiro lachend. „Was war das vorher denn eigentlich für ein Klirren in der Küche?”
„Och, nichts besonderes. Xie hat nur das Glass nach mir geworfen.”
„Warum denn das?”
„Das wüsste ich auch gern.”
„Das sieht dir mal wieder ähnlich”, rief Xie. „Erst die Klappe aufreissen und dann einen auf Opfer machen!”
„Was denn? Ich hab doch gar nichts gemacht.”
„Schon allein die Tatsache, dass du existierst, ist provokativ genug für mich.”
„Heisst das, dass du mir das Glas an den Kopf geschmissen hast, weil dir danach war?”
„Nein, das war der Fusstritt. Das Glas war für deine saudoofe Bemerkung.”
„Welche Bemerkung?”
„Stimmt ja, du laberst so viel Blödsinn, dass du nicht mal mehr weißt, was du von dir gegeben hast.”
„Was hat er denn gesagt, dass du gleich mit Geschirr nach ihm wirfst?”, fragte Yu genervt.
„Es ist nicht relevant, was er gesagt hat, sonder dass er überhaupt was gesagt hat.”
„Dann hast du also nur mit dem Glas nach ihm geworfen, weil er einfach nur was gesagt hat?”
„Nein, nicht direkt.”
„Warum denn dann?”
„Weil er eine saudoofe Bemerkung gemacht hat.”
„Ich geb's auf.”, stöhnte Yu und rutschte dabei beinahe vom Sofa.
Shui grinste und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
„Ich hab noch Glassplitter in den Haaren”, sagte er.
„Selber schuld”, sagte Xie. „Das nächste mal überlegst du es dir besser zweimal. Also sag ja nie wieder, ich sei ein typisches Weib!” Yu stöhnte erneut, diesmal lauter. Shiro lachte.
„Meinst du nicht, dass du ein bisschen überreagiert hast?”, fragte Yu, der nun am Boden sass.
„Wieso denn?”, sagte Shiro keck. „Man muss den Männern doch auch mal zeigen wo der Hammer hängt. In diesem Sinne: Gute Reaktion, Xie.”
„Nein”, sagte Xie. „Gut wär's gewesen, wenn ich ihn getroffen hätte.”
„Heisst das, wenn ich dich verärgere krieg ich auch ein Glas an den Kopf?”, fragte Yu, der ne böse Vorahnung hatte.
„Nein, nicht doch”, sagte Shiro beschwichtigend. „Ich geh gleich mit dem Küchenmesser auf dich los.”
„Ich glaube, Ri sollte dich auch nicht mehr in die Küche lassen.”
Nach ein paar Minuten in Schweigen, kam Ri endlich aus der Küche. Yu war heilfroh, denn Xie sah aus, als wenn sie sich nächstens auf Shui stürzen würde.
„Yu, hilfst du mir mal in der Küche”, sagte Ri.
„Wieso gerade ich?”, fragte Yu.
„Weil ich Shui und Xie garantiert nie wieder in meine Küche lasse.”
Wiederwillig stand Yu auf.
„Kann ich auch was helfen?”, fragte Shiro.
Ri warf einen raschen Blick auf Shui und Xie, die sich mit ihren Blicken gegenseitig angifteten.
„Warum nicht”, sagte er verständnisvoll und verschwand mit den beiden in der Küche.
Xie sah ihnen kurz nach.
„Wir müssen unbedingt was machen”, sagte sie plötzlich.
„Was meinst du?”, fragte Shui verduzt.
Xie sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. Schlagartig fiel es Shui wieder ein. Die Sache mit Shiro.
„Wir müssen unbedingt Gewissheit haben”, sagte Shiro leise.
„Gewissheit?”, sagte Shui. „Wir haben noch nicht mal nen Verdacht.”
„Doch, Shiro könnte schliesslich ein Dämon sein.”
„Ein Dämon?”
„Ja, aber ich bin mir nicht ganz sicher. In der Unterwelt konnte mir niemand etwas über sie sagen.”
Shui sagte nichts. Er dachte angestrengt nach. Es musste doch eine Möglichkeit geben.
„Der Federtest”, sagte er plötzlich.
„Der Federtest, natürlich”, sagte Xie. „Dass mir das nicht eingefallen ist. Das Blut eines Dämons färbt die Federn eines Guardians schwarz. Wenn wir den Test machen und das Ergebnis negativ ist, dann können wir eins immer hin ausschliessen.”
Xie war vor Aufregung vom Sofa aufgesprungen und hatte mit den Händen wild gestikuliert. Nun sah sie Shui ganz komisch an.
„Was ist?”, fragte Shui, der die Antwort eigentlich nicht wissen wollte.
„Her mit deinen Flügeln”, sagte Xie.
„Oh nein, rupf dir doch selber ne Feder aus.”
„Hab dich nicht so du Memme! Meine Federn nützen nicht viel. Die sind schon schwarz.”
Wiederwillig drehte sich Shui um und spreizte sein Flügel. Xie trat von hinten an Shui heran, legte die linke Hand an einen seiner Flügel und riss eine Feder aus dem Flügel. Shui schrie kurz auf, presste aber sofort die Hände auf den Mund um den Schrei zu ersticken.
„Und wie willst du jetzt an Shiros Blut ran kommen?”, fragte Shui und wischte sich schnell eine Träne weg.
„Das lass meine Sorge sein”, sagte Xie schlicht, steckte sich die Feder ins Haar und lief in die Küche.
In der Küche herrschte geschäftiges Treiben. Ri stand am Herd, Shiro wusch den Salat und Yu schnitt die Zwiebeln. Xie tat so, als wolle sie sich etwas zutrinken holen. Yu legte das Messer hin und presste sich die Hände auf die Augen.
„Man, das ist echt derbe”, stöhnte er während er sich die Tränen aus den Augen wischte.
„Jungs”, sagte Shiro kopfschüttelnd und ging zu Yu hinüber. „Weißt du was, du kümmerst dich um den Salat und ich schneide die Zwiebeln so lange.”
Yu lächelte nur verlegen und machte sich gleich ans Salatwaschen. Shiro griff nach dem Messer und begann den Rest der Zwiebel zu schneiden. Das war die Chance für Xie. Xie liess mit einem Schlenker ihrer Finger Shiros Hand, mit der sie die Zwiebel hielt, unters Messer gleiten.
„Aua!”, schrie Shiro kurz.
Sofort stand Xie neben ihr. Shiros Finger blutete.
„Was ist passiert?”, fragte Xie.
„Nichts, hab mir nur in den Finger geschnitten”, sagte Shiro.
Xie griff nach der Hand mit dem blutenden Finger. Ri kam nun auch zu ihnen und gab Shiro ein Pflaster. Shiro nahm das Pflaster und wickelte es sorgfältig um den Finger.
Xie hatte sich unterdessen aus der Küche geschlichen. Shiros Blut klebte an ihrem Finger. Xie zog Shuis Feder aus ihren Haaren und streifte das Blut auf die Feder. Shui kam zu ihr.
„Und? Was ist?”, fragte er. Xie legte einen Finger auf die Lippen.
Gebannt starrten beide auf die Feder. Nichts geschah.
„Tja, sie scheint kein Dämon zu sein”, sagte Xie nach ein paar Minuten und warf die Feder weg. „Das war je ne Pleite.”
Shui hob die Feder wieder vom Boden auf. Er erstarrte. Der Blutfleck war von einer feinen, schwarzen Linie umrandet. Die Linie breitete sich nach aussen aus wie ein Tintenfleck auf einem Stück Fliesspapier, bis die ganze Feder schwarz war.
„X- Xie”, hauchte Shui mit erstickter Stimme. „Xie sieh doch.”
„Was denn?”, sagte Xie genervt. „Die Feder ist ja schwarz.”
„Das bedeutet, dass Shiro ein Dämon ist. Wir müssen es unbedingt Ri sagen auf der Stelle!”
„Nein! Nein, noch nicht.”
„Warum nicht?”
„Wenn Shiro etwas böses vorhätte, würde ich das spüren.”
„Meinst du?”
„Vertrau mir. Unter Umständen weiss sie noch nicht mal, dass sie ein Dämon ist.”
Für Shui war das nicht wirklich beruhigend. Beim Abendessen war er sehr aufmerksam und angespannt. Er sass Shiro gegenüber, die neben Yu sass. Es wurde viel gescherzt und gelacht, sogar Xie mischte tüchtig mit. Als sie sich nach dem Abendessen ins Wohnzimmer setzen wollten, verabschiedete sich Ri von ihnen.
„Du willst weg?”, rief Shui. „Wo willst du denn jetzt noch hin?”
„Ich habe Nachtschicht im Krankenhaus”, sagte Ri und warf sich seinen Mantel über.
„Muss das sein, kannst du dir nicht mal frei nehmen?”
„Nicht so kurzfristig. Ausserdem ist im Krankenhaus im Moment Hochbetrieb.”
Ri ging zur Tür, Shui lief ihm nach.
„Warum läufst du mir hinterher, du bist doch kein Hund?”, fragte Ri misstrauisch.
Shui öffnete den Mund um Ri zu sagen, was er und Xie herausgefunden hatten. Dann dachte er aber an Xies Worte, dass wenn Shiro etwas im Schilde führen würde, dass sie es spüren würde. Ausserdem befürchtete er, dass Xie ihm den Kopf abreissen würde.
„Was ist?”, fragte Ri.
„Nichts”, sagte Shui rasch. „Ich fühl mich nur ein bisschen unwohl, mit zwei Teenagern alleine.”
„Mach dir da mal keine Sorgen. Die zwei kommen schon zurecht.”
Mit diesen Worten verliess Ri das Haus und liess Shui allein im Flur stehen.
Der weitere Abend verlief ganz ruhig. Yu ging mit Shiro bald auf sein Zimmer. Xie und Shui blieben im Wohnzimmer. Xie las ein Buch und Shui hatte en Fernseher eingeschaltet. Das ganze Haus war Still. Das Licht warf gelblichorange Flecken in den Schnee. Das Einzige Geräusch kam vom Fernseher.
Plötzlich zerriss ein lauter Entsetzensschrei die Stille. Shui und Xie fuhren hoch, bereit zum Sprung. Sie stürmten aus dem Wohnzimmer in den Flur. Am Fuss der Treppe rannte ihnen Shiro entgegen. Sie stiess mit Shui zusammen.
„Ganz ruhig, ganz ruhig”, versuchte Shui die aufgeregte Shiro zu beruhigen.
„Was ist los?”, fragte Xie.
„Yu”, keuchte Shiro mit dem Ausdruck blanken Entsetzens auf dem Gesicht.
„Was ist mit ihm”, fragte Shui und schüttelte Shiro.
„Ich weiss es nicht er ist plötzlich ohnmächtig geworden.”
Tatsächlich lag Yu bewusstlos in seinem Zimmer. Den Oberkörper auf der Matratze am Boden und die Beine auf dem Bett. Seine Lippen waren blau angelaufen und er zitterte am ganzen Körper. Shui stürzte auf Yu zu und hob ihn hoch.
„Was ist mit ihm?”, fragte Shiro.
„Es ist nichts schlimmes”, sagte Xie. „Ihm ist vermutlich nur schwindlig geworden.”
Yu kam zu sich. Leise stöhnend schlug er die Augen auf. Verwirrt blickte er um sich.
„Wie fühlst du dich?”, fragte Shui.
„Mir ist irgendwie schwindlig”, sagte Yu leise.
„Was ist denn passiert?”, fragte Xie, die ihre Hand auf Shiros Schulter gelegt hatte.
„Ich weiss nicht mehr so genau”, sagte Yu verwirrt. „Ich hab was gelesen, Shiro hat schon geschlafen, dachte ich zumindest. Sie sah so süss aus, wie sie da so schlief. Da wollte ich sie... nur ganz kurz... ich wollte nicht, dass sie aufwacht... dann hab ich so ein brennen gespürt, mir wurde schwarz vor Augen.”
Shui begann auf einmal zu lachen.
„Du hast sie geküsst?”, rief er in einem Lachanfall.
Yu wurde rot. Shiro setzte ein erstauntes Gesicht auf um zu verbergen, dass sie ebenfalls rot wurde. Yu stand taumelnd auf.
„Ich brauch nen Schluck Wasser”, sagte er matt und taumelte aus dem Zimmer. Shiro folgte ihm.
Shui sass am Boden des Zimmers und kicherte.
„Er hat sie geküsst”, sagte er.
„Kein Wunder dass er vergiftet wurde”, sagte Xie.
„Wie? Vergiftet?”
„Ja natürlich, weisst du das etwa nicht mehr? Dämonen haben doch verschiedene Gifte im Körper. Da Shiro ein Dämon ist, hat sie die auch. Als Yu sie geküsst hat, ist sie erschrocken, das ist alles. Zum Glück war ihr Gift nicht so stark.”
Shui stand auf. Er sah Xie nachdenklich an.
„Was ist?”, fragte Xie und sah Shui kritisch an.
„Warum bin ich nicht umgekippt?”, sagte Shui.
„Was ist los?”
„Ich hab dich doch schon öfter geküsst. Warum hast du nie dein Gift eingesetzt?”
Xie wurde plötzlich rot. Sie wich Shuis Blick aus und murmelte irgendwas unverständliches vor sich hin.
„Na, auch egal”, sagte Shui und streckte sich. „Yu scheint ja gut ohne uns zurechtzukommen.”
Shui ging aus dem Zimmer. Xie drehte sich um und sah Shui nach.
„Es war mir nie unangenehm”, flüsterte sie so leise, dass Shui es nicht hören konnte.
Auf dem Flur war plötzlich ein würgendes Geräusch aus dem Badezimmer zu hören. Yu kniete auf dem gefliesten Boden, stemmte sich auf die Kloschüssel und übergab sich. Shiro kniete sich neben ihn, strich ihm die Haare aus dem Gesicht und hielt sie ihm am Hinterkopf zusammen.
„Tut mir leid, Shiro”, würgte Yu hervor.
„Was denn?”, fragte Shiro.
„Dass ich dir den Abend verdorben hab. Ich hab nur gewollt, dass du einen schönen Abend hast und jetzt sitzen wir im Badezimmer während ich mir die Seele aus dem Leib kotz.”
„Das ist doch nicht schlimm”, sagte Shiro mit einem sanften Lächeln. „Es war doch ganz lustig. Im Leben gibt's halt immer ein paar Pannen, da kann man nichts machen.”
„Mir währ aber trotzdem lieber gewesen, wenn's anders gelaufen währ.”
„Wenn es dich tröstet, sollst du wissen, dass ich mich heute sehr amüsiert hab.”
Yu sah Shiro durch seine schweissnassen Haare an. Shiro lächelte.
Yu ging, von Shiro gestützt, wieder in sein Zimmer zurück. Müde liess er sich aufs Bett fallen. Shiro setzte sich neben ihn. Sanft strich sie ihm übers Gesicht. Ihre Hand fühlte sich angenehm kühl an.
Shui und Xie sassen dicht zusammengedrängt auf der Treppe. Xie hielt eine leuchtende Glaskugel in den Händen. Durch diese konnten sie das Geschehen in Yus Zimmer beobachten. Xie lachte.
„Sind die beiden nicht süss?”, sagte sie leise.
„Ja”, sagte Shui. „Schon komisch, die beiden sind so in einander verliebt, aber die einzigen, die das noch nicht wissen...”
„... sind sie selbst.”
Als Ri später nach hause kam, fand er Yu und Shiro schlafend in Yus Zimmer vor. Aneinander gekuschelt, wie zwei Kinder, die sich gegenseitig Wärme spendeten.

Der erste Sonnenstrahl des Tages fiel durchs Fenster in Yus Zimmer und weckte ihn sanft. Ihm war immer noch ein bisschen mulmig aber ansonsten ging es ihm wieder gut. Als Yu sich strecken wollte merkte er, dass er seinen Arm um Shiro gelegt hatte. Shiro hatte ebenfalls ihre Arme um Yu geschlungen und kuschelte sich ganz dicht an ihn. Shiros schlafendes Gesicht wirkte wunderschön. Das Licht der aufgehenden Sonne tauchte es in ein blasses Rot. Yu wünschte sich, dass sie nie aufwachen würde.
Blinzelnd öffnete Shiro die Augen. Sie sah Yu an. Yu suchte verzweifelt nach einer plausiblen Erklärung für die momentane Situation. Shiro setzte sich auf und streckte sich.
„Gut geschlafen?”, fragte sie, als währe das keine ungewöhnliche Situation.
„J... ja”, antwortete Yu etwas verwirrt. „Und was ist mit dir?”
„Hab schon lange nicht mehr so gut geschlafen. Ist dir noch übel?”
„N... nein, es geht mir wieder gut.”
Beide lachten verlegen.
Ri sass unten in der Küche. Als Shiro und Yu die Küche betraten, grinste er breit.
„Na, gut geschlafen ihr zwei?”, fragte er.
„Gut”, sagte Yu knapp.
„Nun, gefroren scheint ihr zwei heute Nacht ja nicht zu haben oder?”
Yu wurde schlagartig rot im Gesicht. Ri grinste noch breiter und auch Shiro konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Spannst du neuerdings?”, fragte Yu.
„Ne, es war nur so still als ich nach hause gekommen bin”, sagte Ri. „Als ich noch Pyjamapartys geschmissen hab, waren wir um diese Zeit noch lange nicht ruhig. Ausserdem waren Shui und Xie nirgends zu hören, und die hört an schliesslich kilometerweit. Da dachte ich, ich seh mal nach dem rechten. Aber du scheinst dich mit Shiro ja auf andere Weise vergnügt zu haben.”
Yu wurde noch röter und Ri sah seinen Bruder mit einem warmen, fast väterlichen, Blick an. Dann wandte er sich plötzlich an Shiro.
„Sag mal, deine Schwester heisst nicht zufällig Suka?”, fragte er.
„Doch”, antwortete ihm Shiro. „Suka ist meine ältere Schwester. Woher kennen Sie Suka denn?”
„Sie arbeitet neuerdings bei uns im Krankenhaus. Gestern Abend war es ziemlich ruhig, da hatten wir Zeit uns zu unterhalten.”
„Deine Schwester ist Krankenschwester?”, fragte Yu.
„Nein”, sagte Shiro, „sie ist Kinderärztin im Studium.”
„Genau”, sagte Ri. „Sie ist Assistenzärztin. Wir hatten nur wenige Schichten zusammen und wenn, dann hatten wir meist irgendwelche Notfälle. Also hatten wir keine Zeit uns näher kennen zu lernen. Gestern hat sie mir dann von ihrer Schwester erzählt. Einem kleinen, siebzehnjährigen, dunkelhaarigen Mädchen namens Shiro.”
„Da fällt mir was ein”, sagte Shiro nachdenklich. „Suka hat von einem Arzt im Krankenhaus erzählt, den sie unheimlich nett fände. Kann es sein, dass sie gemeint waren?”
„Keine Ahnung, es gibt mehrere nette ärzte in unserem Krankenhaus.”
„Aber nur einen Kinderarzt mit Namen Mizuno.”
Nun wurde Ri rot, allerdings nicht so leuchtend rot wie Yu.
„Herr Mizuno”, sagte Shiro und klang jetzt ein bisschen niedergeschlagen.
„Nenn mich doch Ri”, sagte Ri mit dem selben Lächeln, welches er Yu immer entgegenbrachte.
„Okay, Ri. Was hat meine Schwester ihnen... dir über mich erzählt?”
Das Lächeln wich aus Ris Gesicht. Er sah Shiro mit einem merkwürdigen Blick an. Er schien sich die Worte für seine Antwort genau zu überlegen. Egal was Ri sagen würde, Yu hatte das Gefühl, dass es Shiro nicht gefallen würde.
„Sie hat ehrlichgesagt nicht viel erzählt”, sagte Ri langsam, als wenn er immer noch genau nachdenken würde. „Sie hat eigentlich fast nur über sich, ihre Mutter und ihren Vater gesprochen, dich hat sie eigentlich nur kurz erwähnt. Wenn ich sie nicht gefragt hätte, hätte sie mir wahrscheinlich nicht mal deinen Namen gesagt.”
„Das hab ich mir schon gedacht.”
Shiro sah betrübt auf ihre Hände. Yu wusste nicht warum aber Ris Erörterung des Gesprächs mit ihrer Schwester, schien sie traurig gemacht zu haben.
„Ihr versteht euch wohl nicht so gut, du und deine Schwester”, sagte Ri.
„Ja, leider”, sagte Shiro und tat so, als würde sie das nicht kümmern. „Ich weiss auch nicht was los ist, aber irgendwie scheint Suka mich nicht zu mögen.”
„Wie kommt das denn?”, fragte Yu überrascht. „Sie ist doch deine Schwester. Ich meine, irgendwo muss sie dich doch mögen. Wo bleibt denn da die Geschwisterliebe.”
„Na ja, Suka und ich, wir sind halt eben nur Halbschwestern. Uns verbindet halt so gut wie nichts. Schliesslich ist es ja auch meine Schuld, dass wir so oft umziehen müssen. Darum hat sie auch nicht so viele Freunde. Wegen mir ist ihr Leben eine Katastrophe. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass sie mich nicht mag oder?”
„Ganz und gar nicht!”, rief Yu aufgrausend. „Das ist überhaupt nicht normal und auch ganz und gar nicht nett von der. Entschuldige, wenn ich das sage, aber deine Schwester hat einen an der Waffel!”
„Yu, beherrsch dich gefälligst!”, tadelte Ri.
„Ist doch wahr!”
„Du darfst das nicht falsch verstehen”, sagte Shiro. „Suka ist wirklich nett, wir kommen einfach nicht so gut miteinander aus. Das ist doch schliesslich völlig normal, wenn man mit jemandem nicht auskommt. Na ja, und ich bin quasi zwischen sie und ihren Vater getreten und den hat sie schliesslich gemocht. Sie kam sich halt abgemeldet vor, schliesslich war ich ja seine leibliche Tochter.”
„Jetzt muss ich dir aber mal was sagen”, sagte Ri mit ernstem Gesicht. „Das ganze mag ja irgendwo Sinn machen aber se ist noch lange keine Rechtfertigung für deine Schwester dir die Schuld dafür zu geben.
Ich will dir mal was erzählen. Yu hat eine andere Mutter als ich und Shui. Wir sind als auch nur Halbbrüder. Unsere Mutter starb kurz nach Shuis Geburt. ein paar Jahre später hat unser Vater dann Mika kennen gelernt. Yus Mutter. Wir waren Anfang nicht so begeistert von Vaters neuer Liebe. Nach einer Weile haben wir uns dann aber damit abgefunden. Wir hatten uns an Mika gewöhnt und hatten sie mit der Zeit auch liebgewonnen. Sie hat sich rührend um uns gekümmert, wie eine Mutter eben. Als sie uns dann sagte, dass sie ein Kind bekommen würde, war ich ein bisschen irritiert. Ich dachte, dass mein Vater und Mika ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zuwenden werden. Das hat mir natürlich nicht gepasst. Am Tag bevor Yu zur Welt kam, nahm mich Mika zur Seite und bat mich um etwas. Sie bat mich, auf meinen neuen Bruder genauso gut aufzupassen, wie auf Shui. Erst wollte ich es nur Mika zuliebe tun, aber als ich Yu dann zum ersten mal im Arm hielt, hab ich gespürt, dass in unseren Adern das selbe Blut fliesst.”
Ri schwieg. Shiro sah ihn erstaunt an.
„Worauf willst du hinaus?”, fragte sie leise.
„Ich will dir damit nur sagen, dass egal ob blutsverwandt oder nicht, es ist immer eine gewisse Zuneigung zwischen Geschwistern da. Deine Schwester mag es vielleicht noch nicht erkannt haben aber sie hat dich bestimmt auch gern. Vor allem sollst du aber aufhören dir selbst die Schuld dafür zu geben.”
„Meinst du?”
„Das ist meine ehrliche und aufrichtige Meinung dazu.”
Shiro begann zu lächeln. Sie sagte nichts aber sie war Ri von Herzen dankbar für seine Worte. Yu war ein bisschen betrübt. Er wünschte, er könnte Shiro so zum Lachen bringen.
Shui und Xie kamen in die Küche und lenkten Yus Gedanken damit wieder in die Wirklichkeit.
„Und wo wart ihr zwei letzte Nacht?”, fragte Ri mit einem merkwürdigen Grinsen.
„Wo sollen wir schon gewesen sein”, sagte Shui gähnend.
„Na, als ich zurück gekommen bin war kein Lärm zu hören wie sonst. Das Haus sah ausnahmsweise mal nicht aus, als wenn eine Bombe eingeschlagen hätte und die Nachbarn hatten sich auch nicht beschwert. Da hab ich mir Sorgen gemacht. So ein zivilisiertes Verhalten bin ich mir von euch schliesslich nicht gewohnt.”
„Wir sind ausnahmsweise mal früh ins Bett”, sagte Shui und gähnet noch mal.
„Ihr scheint ja alles mögliche gemacht zu haben, aber geschlafen habt ihr offensichtlich nicht.”
„Mach dir keine falschen Hoffnungen”, sagte Xie scharf. „Wir hatten gestern weitaus Wichtigeres um das wir und kümmern mussten.”
„Aha”, sagte Ri, „was denn zum Beispiel?”
Ri lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Atmosphäre im Raum hatte sich schlagartig verändert. Die Luft schien angespannt und drückend.
„Was wir gemacht haben?”, sagte Xie und ihr Blick wurde auf einmal kalt wie Eis. „Das geht lediglich Shui und mich etwas an.”
Ri und Xie sahen sich gegenseitig in die Augen. die beiden schienen mehr als nur Blicke auszutauschen. Ri heftete Xie mit seinen Augen fest. Er versuchte durch ihre Augen in ihre Gedanken einzudringen. Xie wehrte sich gegen den Eindringling. Ri war es möglich einige von Xies Gedanken zu sehen. Aber das, was Ri eigentlich suchte, wollte sie auf keinen fall preisgeben. Xie bebte in ihrem innersten. Angestrengt versuchte sie, Ri von ihren Gedanken fern zu halten. Wie lange würde ihre Kraft noch reichen? Auch Ri würde die Anstrengung nicht mehr lange durchhalten. Die Wand, die Xie hochgezogen hatte um ihre Gedanken abzuschirmen, war zu stark. Als Xie schon glaubte, dass sie unterliegen würde, gab Ri sein Vorhaben auf.
Er lehnte sich wieder zurück. Er hatte zwar nicht erreicht, was er wollte aber er schien zufrieden.
Xie sagte kein Wort. Sie stand nur da und starrte Ri an. Ihr Blick hatte etwas herausforderndes, als wenn sie Ri aufordern wollte, es noch mal zu versuchen. Ri aber wandte sich von ihr ab.
„Na, wer möchte denn jetzt Frühstück?”, sagte er munter ohne weiter auf Xie zu achten.

In den nächsten Tagen ging Yu Shiro mehrheitlich aus dem Weg. Er wusste auch nicht so genau warum aber die Sache mit dem Kuss war ihm doch ziemlich peinlich. Wenn Shiro den Gang entlang kam, flüchtete sich Yu mit einem Sprung hinter die nächste Ecke, in ein leeres Klassenzimmer oder ins Jungenklo. Einmal war er versehentlich ins Mädchenklo gesprungen, das hatte ihn dann ein paar Stunden Nachsitzen gekostet.
Yu war so damit beschäftigt vor Shiro zu flüchten, dass er gar nicht bemerkte, dass Shiro auch vor ihm davon lief. Sie kam knapp vor dem Läuten und verschwand nach der Schule auch sofort wieder um nicht mit ihm reden zu müssen. Während der Zeit, in der sie zusammen sein mussten. Mieden sie ihre Blicke gegenseitig und redeten nur das nötigste.
„Hat jemand für mich angerufen?”, fragte Yu als er nach einem weiteren anstrengendem Schultag nach hause kam.
„Nein, Shiro hat nicht angerufen”, sagte Shui, der als einziger zuhause war.
„Ich hab doch nicht nach Shiro gefragt.”
„Aber du hast das gemeint. Eigentlich wolltest du fragen „Hat Shiro angerufen?”, oder etwa nicht?”
Yu liess sich aufs Sofa neben Shui sinken und seufzte tief.
„Was soll ich nur machen?”, sagte er und stützte das Kinn auf die Fäuste.
„Was fragst du mich?”, sagte Shui. „Was hast du denn in letzter Zeit so gemacht?”
„Na ja”, Yu dachte nach. „Eigentlich nichts.”
„Tja, da haben wir ja schon den Fehler. Glaub mir, nichts tun ist das schlimmste was du tun kannst in einer Beziehung.”
„Ich hab keine Beziehung mit Shiro”, sagte Yu mit Nachdruck.
„Fehler Nummer zwei.”
„Wieso ist das ein Fehler?”
Shui sah Yu nur mit einem müden Lächeln an.
„Was denn?”, fragte Yu als er Shuis Gesichtsausdruck sah.
„Also Yu”, sagte Shui, „die Sachlage ist doch so. Du magst Shiro doch, richtig?”
„ähm, ja.”
„Und Shiro mag dich offensichtlich auch, oder?”
„Na ja, ich weiss nicht. Ich denke schon.”
Shui kicherte. „Glaub mir, es ist so.”
Shui ging in die Küche. Yu starrte vor sich auf den Boden. Hatte Shui vielleicht recht? Mochte Shiro ihn den wirklich? Mochte sie ihn vielleicht sogar so, wie er sie mochte?
Shui kam aus der Küche zurück. „Tee?”, fragte er und reichte ihm eine Tasse.
„Du, Shui?”, sagte Yu leise.
„Ja”
„Wenn Shiro mich doch mag, warum sagt sie mir das denn nicht?”
„Wenn du Shiro magst, warum sagst du es ihr denn nicht?”
„Na ja, ich... ich trau mich halt nicht. ich hab angst, dass sie mich vielleicht... na ja... Was ist, wenn sie... wenn sie mich nicht mag?”
Shui lachte und stiess dabei beinahe seine Teetasse um.
„Junge, du musst noch einiges über Frauen lernen!”, stiess er lachend hervor. „Ich sag dir mal was. Frauen machen höchstens Andeutungen. Den entscheidenden Schritt musst schon du selbst machen.”
„Hä?”
„Eine Frau will erobert werden. Also musst du dir schon ein bisschen Mühe geben. Wenn du's aber richtig anpackst und ihr zeigst, dass du ehrliches und aufrichtiges Interesse hast, dann sind die Wirkungen geradezu umwerfend.”
Yu kratzte sich am Kopf. „Was meinst du damit?”, fragte er.
„Ganz einfach, du musst Shiro nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken. Das ist im Grunde der ganze Zauber.”
„Du spinnst ja. So kriegst du vielleicht die Mädchen rum, aber in Wirklichkeit funktioniert das etwas anders.”
„Bist du dir da sicher?”
„Allerdings.”
Yu richtete seinen Blick stur gerade aus. Er achtete nicht mehr auf Shui, der Yu unbemerkt beobachtete. Wie aus dem Nichts tauchte Shiros Gesicht vor Yus Augen auf. Erst jetzt viel ihm aus, dass sie in den letzten Tagen auch ziemlich komisch gewesen war. Was wohl der Grund dafür war? Gab es da etwas, was sie vor ihm verbergen wollte? Eine Szene, die sich vor zwei Tagen zugetragen hatte, trat ihm wieder vor die Augen.
Er war in der Schulbibliothek gewesen und suchte ein Buch für seine Buchbesprechung. Als er so an den Regalen entlang spaziert ist, stiess er plötzlich mit einer Person zusammen. es war Shiro, die einen Stapel Bücher trug, welche ihr nun runtergefallen waren. Yu half ihr, die Bücher wieder aufzuheben. Als sie das letzte Buch aufheben wollten, trafen sich ihre Hände. Einen kurzen Moment verharrten sie so. doch dann zog Shiro ihre Hand zurück und wurde rot. Sie zog ein Buch aus dem Stapel und sagte, dass dieses Buch sehr gut sei und er es unbedingt lesen sollte. als Yu das Buch dann zuhause aufklappte, fiel ein Zettel heraus. Auf dem Zettel war ein wunderschönes, mit Blüten und anderen Mustern verziertes Herz gezeichnet. Yu hatte das nicht weiter beachtet. Aber jetzt fragte er sich, ob das eine dieser Andeutungen gewesen war, von denen Shui eben gesprochen hatte.
Yu musste wieder an die Nacht denken, als Shiro bei ihm übernachtet hatte. Als er am anderen Morgen aufgewacht war und bemerkte, dass er Shiro im Arm hielt. In diesem Moment hatte sein Herz wie verrückt geschlagen. Er hatte fast das Gefühl, dass er schweben würde, er war einfach glücklich. Dieses Gefühl würde er am liebsten immer haben.
„Na, wie sieht's aus?”, fragte Shui auf einmal und riss Yu aus seinen Gedanken.
„Was meinst du?”, fragte Yu verwirrt.
„Na, du hast doch gerade über deine Gefühle Shiro gegenüber nachgedacht. Bist du zu einem Entschluss gekommen?”
„Ja... oder, nein... na ja, ich weiss nicht so genau.”
Shui lächelte. „Doch, in deinem Inneren weißt du, was du willst. Das Problem ist nur, dass dein Kopf und dein Herz nicht so recht zusammen arbeiten wollen.”
Yu sah zur gläsernen Verandatür hinaus. Er spürte wie ihm langsam Tränen in die Augen traten. Shui legte ihm seinen Arm um die Schultern. Yu sah auf. In Shuis Gesicht erkannte er das gleiche brüderliche Lächeln, mit dem Ri ihn immer aufmunterte.
„Sag es ihr einfach”, sagte Shui. „Gleich morgen gehst du zu ihr und sagst ihr was du für sie empfindest. Der Rest ergibt sich dann ganz von alleine.”
Shuis munteres Lachen bestärkte Yu. Er war fest entschlossen, es zu tun.
„Danke”, sagte Yu und umarmte seinen Bruder.

Der nächste Tag kam schnell. Viel zu schnell. Mit einem merkwürdig leerem Gefühl im Magen verliess Yu das früh am Morgen das Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Auf dem ganzen Weg machte er sich Gedanken darüber, wie er Shiro sein Anliegen am Besten vortragen konnte. Endlich hatte er eine halbwegs gute Rede zusammen als er den Schulhof betrat. Es war noch so früh, dass das Schulgelände noch wie ausgestorben dalag. Yu ging zu den Schaukeln hinüber und setzte sich. Er hatte Shiro gestern Abend noch eine SMS geschickt und sie zu den Schaukeln bestellt. Yu war aber ein Halbestunde zu früh.
Endlich kam Shiro. Sie trat durch das grosse Tor, blickte sich kurz suchend um und ging dann auf Yu zu. Sie sah sehr müde aus. Sie lächelt aber als sie Yu sah. Sie war offensichtlich neugierig, was Yu ihr zu sagen hatte. Yu stand sofort auf als sie näher kam.
„Guten morgen, Yu”, sagte Shiro. „Also, was willst du mir sagen? Muss ja echt wichtig sein, wenn du mich so früh sprechen willst.”
„Tja, weißt du Shiro, die Sache ist so.”
Yus Hände begannen zu zittern. Rasch liess er sie in den Taschen seiner Jacke verschwinden um sie zu verbergen.
„Also, was ich sagen wollte... ich meine, ich wollte.”
Yus Stimme wurde immer leiser. Er hatte vollkommen vergessen was er sagen wollte. Die ganze Vorbereitung auf dem Schulweg hatte nichts genützt.
Yu verkrampfte sich innerlich. Die Worte wollten ihm einfach nicht von über die Lippen. Er fürchtete sich vor der Antwort.
Yu spürte auf einmal ein warmes Gefühl auf seinen Schultern. Es fühlte sich an, als wenn jemand seine Hände auf seine Schultern gelegt hätte. Es machte ihm Mut. Er dachte, dass er alles schaffen könnte. Yu nahm seinen ganzen Mut zusammen.
„Shiro”, Yus Stimme bebte, „Ich liebe dich und ich wollte dich fragen, ob du mit mir gehen möchtest?”
Yu atmete tief durch. Er hatte es endlich getan. Ihm war nun leichter ums Herz. Yu sah auf. In Shiros Gesicht stand das Entsetzen.
„ähm, das ist nett von dir”, sagte Shiro. „Ich weiss nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Gib mir bitte etwas Zeit um darüber nachzudenken.”

„Yu. Yu, geht es dir gut?”, rief eine Stimme durch einen Nebel aus Selbstmitleid und Dunkelheit.
Yu sass zusammengekauert in einer Ecke seines Zimmer am Boden. Er war nach der Schule nach hause gekommen und wortlos die Treppe hinauf in sein Zimmer gegangen. Nun sass er schon seit zwei Stunden so in seinem Zimmer ohne sich zu bewegen.
Xie und Shui standen um ihn herum und versuchten ihn wieder etwas aufzuheitern.
„Ist er überhaupt noch wach?”, fragte Shui unsicher und wedelte mit der Hand vor Yus Gesicht herum.
„Das ist alles deine Schuld!”, sagte Xie gehässig.
„Meine Schuld? Warum denn meine Schuld?”, rief Shui empört.
„Hättest du ihm nicht diese Flausen in den Kopf gesetzt, dann wäre das nie passiert.”
„Was für Flausen? Ich habe ihm nur geraten, Shiro seine Gefühle mitzuteilen.”
In diesem Moment läutete es an der Tür. Xie sah Shui an.
„Ist schon gut, ich gehe”, sagte Shui.
Murrend verliess er das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Xie wandte sich wieder Yu zu. Sie stupste Yu an um zu überprüfen, ob er überhaupt noch lebte.
„Yu es ist für dich”, rief Shui von unten.
Langsam taumelnd stand Yu auf und trottete die Treppe hinunter. Xie sah ihm kritisch hinterher. Sie folgte ihm vorsichtshalber um im Notfall zu verhindern, dass er die Treppe runter purzelte. Als Yu in den Gang trat, fielen ihm vor überraschung fast die Augen aus dem Kopf. Neben Shui stand Shiro.
„Shiro?”, rief Yu. „Was machst du denn hier?”
„Ich habe nachgedacht”, sagte sie, Yu schwante nichts Gutes. „Ich habe in letzter Zeit viel Stress. Es sind eine menge Dinge passiert, die ich mir teilweise selbst nicht erklären kann. Aber mir ist klar geworden, dass ich dich auch sehr gern habe, Yu. Dein Geständnis von heute morgen hat mich nur ein bisschen überrascht.”
„Und was heisst das jetzt konkret?”, fragte Yu unsicher.
„Ich glaube, das heisst, dass ihr jetzt zusammen seid”, sagte Shui breit grinsend.
Shiro nickte und lächelte verlegen. Yu sagte nichts. Er trat nur auf Shiro zu und umarmte sie stürmisch. Freudentränen liefen ihm übers Gesicht. Jetzt war sein Leben perfekt.
Ala Ri am späteren Abend nach hause kam, fand er einen bis über beide Ohren strahlenden Yu im Wohnzimmer vor.
„Hallo!”, rief Yu euphorisch. „Na, wie war die Arbeit?”
„Stressig”, antwortete Ri ein bisschen verwirrt. „Was ist denn mit dir passiert? Du bist ja auf einmal so fröhlich. Hast du Muntermacher geschluckt oder was?”
„Nein, nein, es ist nur, ich bin jetzt...”, Yu brach den Satz ab und wurde auf einmal rot.
Ri wurde neugierig. Er trat auf Yu zu, beugte sich zu ihm hinunter und stemmte beide Hände auf die Armlehnen des Sessel in dem Yu sass.
„Was ist?”, fragte Ri und fixierte Yu. Yu wurde noch röter.
„Ich bin mit Shiro zusammen”, nuschelte Yu und sah zur Seite. Ri lachte.
„Das ist dir doch wohl nicht peinlich, oder?”
„Na ja, es ist schon etwas komisch. Ich hatte noch nie eine Freundin. Hätte Shui mir nicht Mut gemacht, hätte ich sie nie gefragt.”
„Tja, man hälts zwar kaum für möglich, aber Shui weiss manchmal doch wovon er redet.”
Beide lachten. Shui war zwar nicht immer bei der Sache aber auf seinen Rat konnte man sich immer verlassen.

Der Rest der Woche war für Yu wie ein wunderbarer Traum. Er ging mit Shiro gemeinsam zur Schule und er ging auch wieder mit ihr nach hause. Er begleitete sie oft noch bis zu ihrem Haus. Sie wohnte in einem grossen Mehrfamilienblock. Sogar das Training, das Ri noch intensiviert hatte, fiel ihm auf einmal viel leichter als sonst. Es gab nur etwas, was sein Glück noch zu trüben vermochte. Das war die Tatsache, dass er und seine Brüder Guardians waren. Wie lange würde er wohl in der Lage sein, das vor Shiro zu verheimlichen? Allerdings dachte Yu auch nicht sonderlich viel darüber nach.
Schliesslich kam der Samstag. An diesem Tag hätte Yu eigentlich ausschlafen können. Stattdessen stand er schon um acht Uhr morgens auf. Yu war schon fertig angezogen und lief nervös in seinem Zimmer auf und ab. Er war gegen Mittag mit Shiro verabredet. Ihr erstes Date. Yu wollte alles richtig machen. damit das erste Date auch wirklich unvergesslich wurde. Wenn alles gut lief, würde er sie vielleicht sogar küssen. Und dieses mal würde er wach bleiben. Selbst als er ein paar Stunden später mit den anderen am Tisch in der Küche sass, konnte er an nichts anderes mehr denken.
Ri las in der Zeitung. Mit einem leichten Seufzer legte er sie weg.
„Wieder einer”, sagte Ri.
„Wieder einer?”, sagte Yu.
„Es ist wieder jemand angegriffen worden.”
„Schon wieder?”
„Ja, das ist schon der dritte diese Woche und dann kommt noch die Sachbeschädigung.”
Erst nach einer Weile bemerkte er, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren.
„Ist was?”, fragte Yu die drei, die ihn mit neugierigem Lächeln ansahen.
„Nein, gar nichts”, sagte Ri lächelnd.
„Warum grinst ihr denn alle so komisch?”
„Warum sollten wir denn nicht?”, fragte Xie.
„Hach, unser kleiner Yu wird erwachsen”, sagte Shui und imitierte dabei den Ton einer Übermutter.
„Spielt ihr auf etwas bestimmtes an?”, fragte Yu.
„Wie kommst du denn auf die Idee?”, fragte Shui.
„Was hast du denn heute mit Shiro vor?”, fragte Xie.
„Nichts spezielles”, sagte Yu. „Wir gehen nur ein bisschen bummeln in der Stadt.”
„Wann bist du denn mit Shiro verabredet?”, fragte Ri.
„Um halb zwölf. Wir wollen in der Stadt Mittag essen.”
„Dann schlag ich vor, dass du dich mal ein bisschen beeilst.”
Ri deutete auf seine Armbanduhr. Es war schon viertel nach elf. Bis zum vereinbarten Treffpunkt brauchte Yu etwa zwanzig Minuten. Yu sprang vom Tisch auf und raste im Eilzugstempo aus dem Haus, ohne sich recht zu verabschieden. Ri, Shui und Xie sahen sich an und lachten.
Ri sah auf die Schlagzeile der Zeitung. Er seufzte.
„Wieder einer”, sagte Ri.
„Wieder einer?”, sagte Shui.
„Es ist wieder jemand angegriffen worden.”
„Schon wieder?”
„Ja, das ist schon der dritte diese Woche und dann kommt noch die Sachbeschädigung.”
„In der Zeitung steht, dass es wohl eine Bande jugendlicher Roadies waren”, sagte Xie.
„Das sind keine Menschen”, sagte Ri. „Wenn die nur wüssten.”
„Ja, dieser Dämon wütete ganz schön. Kein Wunder dass der Rat alle Guardians in Alarmbereitschaft versetzt hat.”
„Hmhm, ich hoffe nur, dass Yu und Shiro dem nicht über den Weg laufen.”

Als Yu am Treffpunkt ankam, war von Shiro noch nichts zu sehen. Vielleicht war sie ja auch ein bisschen spät dran, dachte Yu. er setzte sich auf eine niedrige Mauer und wartete. Die Zeit verstrich, aber Shiro kam nicht. Mittlerweile war schon eine halbe Stunde vergangen. Was war nur los? Wo blieb Shiro? Hatte sie ihn etwa vergessen? Yu kramte in seiner Tasche nach seinem Handy um Shiro anzurufen, als er eine Gestalt die Strasse entlang kommen sah. Die Gestalt hatte es eilig und kam schnell näher. Als die Gestalt schlitternd vor Yu zum Stehen kam erkannte er sie. Vor ihm stand Shiro.
„Tut mir leid, dass ich so spät komme”, japste Shiro und presste sich die Hand an die Seite.
„Schon gut”, sagte Yu lächelnd. „Immerhin bist du ja doch noch gekommen. Was hat dich eigentlich so lange aufgehalten?”
Shiro schwieg. Sie sah ziemlich blass aus und hatte auch dunkle Ringe unter den Augen. Hatte sie letzte Nacht vielleicht nicht genug geschlafen?
Yu dachte nicht weiter darüber nach. Zusammen mit Shiro ging er ins Stadtzentrum. Sie suchten sich ein nette Restaurant und assen gemütlich zusammen. Sie redeten über alles mögliche und unmögliche. Shiro wollte alles über Yus Familie wissen. Yu erzählte ihr gern von seinen Brüdern. Nur leider musste er ihr Dinge verschweigen, die er ihr eigentlich gern gesagt hätte.
Als sie das Restaurant wieder verliessen, war es schon spät. Sie liefen Hand in Hand die Strasse entlang. Yu lachte. Ihm war so leicht ums Herz. Das letzte mal war er so glücklich gewesen, als er erfahren hatte, dass er zwei Brüder hatte.
Auf einmal durchfuhr ihn ein ungutes Gefühl wie ein Blitzschlag. Yu erstarrte. Irgendwer oder irgendetwas beobachtete sie. Yu blieb stehen und sah um sich.
„Stimmt etwas nicht?”, fragte Shiro.
„Da ist etwas”, sagte Yu langsam.
„Wo denn?” Shiros Hände klammerten sich an Yus Arm fest.
„Da, in den...” Yu hielt inne. „Ach, doch nicht. Ich hab mich geirrt.”
Yu grinste verlegen. Shiros Griff um Yus Arm löste sich. Ihr Gesicht blieb jedoch besorgt. Als sie weiterliefen, war Shiro immer wieder einen nervösen Blick über die Schulter zurück.
Hinter ihnen raschelte es in den Büschen. Beide drehten sich blitzartig um. Aus dem Blätterdickicht funkelten sie zwei blutrote Augen an. Yus Herz schlug schneller. Mit einem ohrenbetäubendem Brüllen sprang ein zwei Meter grosser Dämon aus den dunklen Büschen.
„Lauf!”, schrie Yu, packte Shiro am Arm und zog sie hinter sich her.
Der Dämon setzte sich ebenfalls in Bewegung. Mit seinen langen Beinen war er viel schneller als Yu und Shiro. Yu musste etwas unternehmen. Der Dämon holte immer weiter auf.
Was soll ich nur tun? Dachte Yu verzweifelt. Warum hat Ri mir nur verteidigen beigebracht? Das hilft mir jetzt gar nicht. Yu versuchte den Kopf frei zu kriegen. Warum mussten ihm denn ausgerechnet jetzt so viele Gedanken im Kopf rumschwirren?
Yus rechte Hand wurde plötzlich warm. Sie wurde immer wärmer bis sie regelrecht glühte. Yu erinnerte sich, dass Ri ihm gesagt hatte, dass das ein Zeichen sich sammelnder Energie war. Yu stoppte, drehte sich um und streckte der Gestalt die Hand, mit der Handfläche nach aussen, entgegen. Ein heller Lichtstrahl brach aus Yus Hand hervor und traf die Gestalt. Die Gestalt fiel hinten über und blieb reglos liegen.
Yu drehte sich nach Shiro um. Shiro kniete am Boden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie abwechselnd Yu und das Monster an. Yu wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich soeben verraten. Was sollte er tun? Shiro kannte nun sein Geheimnis.
Shiro stand auf. Yu ging auf sie zu und wollte sie an der Schulter fassen. Shiro wich ängstlich vor ihm zurück.
„Shiro, ich kann das erklären”, sagte Yu.
Shiro sagte nichts. Sie blickte über Yus Schulter hinweg auf das am Boden liegende Monster. Shiros Augen weiteten sich.
„Pass auf!”, schrie Shiro plötzlich.
Doch es war schon zu spät. Der Dämon hatte Yu von hinten gepackt und hob ihn hoch in die Luft. Yu versuchte sich aus dessen Griff zu befreien. Zwecklos, der Dämon war zu stark.
„Shiro, lauf weg!”, rief Yu.
Shiro stand da wie angewurzelt. Sie hatte den Blick zu Boden gerichtet. Ihr Körper zitterte.
„Mach schon!”, rief Yu verzweifelt.
Der Dämon Schlug mit der Hand nach Shiro. Shiro wich dem Schlag durch einen Sprung aus. Yu traute seinen Augen kaum. Shiro sprang fast drei Meter in die Luft. Sie landete einige Meter weiter hinten. Sachte wie eine Katze federte sie den Sprung mit Hilfe der Hände ab. Den Blick hatte sie immer noch auf den Boden gerichtet.
„Oh, ihr Menschen seid sprunghafter als ich dachte”, sagte der Dämon mit tiefer Stimme.
„Lass Shiro in Ruhe!”, rief Yu.
„Na, der kleine Mensch scheint dir ja viel zu bedeuten. Eigentlich wollte ich den Hüpfer ja schnell töten, aber ich glaube, es macht mehr Spass, wenn das Menschlein ein bisschen leidet.”
Shiro riss den Kopf hoch. Yu erschrak. Shiros Augen hatten sich blutrot verfärbt. Ihre Ohren liefen nun spitz zu und ihre Zähne und Finger sahen aus wie die Reisszähne und Klauen einer Wildkatze.
„Lass ihn los!”, sagte Shiro und ihre Stimme klang wie das Fauchen einer Katze.
Der Dämon lachte nur und schlug mit der freien Hand nach Shiro. Shiro wich den Schlägen durch geschickte Sprünge aus.
Shiro sprang hoch, holte aus und schlug dem Dämon die Hand ab, mit der er Yu festhielt.
Yu stürzte zu Boden. Shiro stand neben ihm. Ihre recht Hand war mit dem Blut des Dämons beschmiert. Yu sah zu Shiro hoch. Ihre Augen waren wieder dunkel. Ihr Blick war trüb, wie der eines Menschen, der gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht war. Shiro taumelte. Yu fing sie auf bevor sie am Boden aufschlug.
Der Dämon hob, rasend vor Wut, die ihm verbliebene Hand und wollte damit nach den beide schlagen. Doch bevor er die Hand zur Gänze erhoben hatte, war das Sirren einer Klinge zu hören. Der Dämon fiel zu Boden und sein schwarzes Blut tränkte den Boden. Der Körper ging in Flammen auf. Im Schein des Feuers erkannte Yu Xies weisse Haare.

Es verging einige Zeit, bis Shiro wieder zu sich kam. Sie lag auf einem Sofa. Um sie herum war alles verschwommen. Einen Moment lang, wusste sie nicht, wo sie war.
Dann erkannte sie Yu, der sich über sie beugte.
„Shiro?”, hörte sie seine Stimme leise sagen. „Wie geht es dir?”
„Es geht schon”, murmelte sie und richtete sie auf.
„Na, wie geht's unserer Patientin?”, fragte Ri, der gerade das Wohnzimmer betrat.
Ri ging zu Shiro hin, fühlte ihr die Stirn und sah ihr in die Augen.
„Ist nichts ernstes”, sagte er lächelnd. Shiro erwiderte das Lächeln.
Yu sass daneben und sah Shiro nur mit leerem Blick an. Er konnte nicht vergessen, was nur ein paar Stunden vorher im Park passiert war. Was war nur passiert? Was war mit Shiro los? Wie konnte sie nur solche Kraft entwickeln? Mit einem mal hatte sich ihre Aura vollkommen verändert. Das war nicht sie selbst gewesen.
„Hm... du bist ein bisschen blass”, sagte Ri und riss Yu damit aus seinen Gedanken. „Fieber hast du aber keins. Ist dir schwindlig, hast du Kopfschmerzen oder ist dir schlecht?”
„Mir ist ein bisschen schwindlig”, sagte Shiro matt. „Was ist eigentlich passiert? Ich hab nen totalen Filmriss.”
Ri sah plötzlich ernst aus. „Shui! Xie! Hört auf an der Tür zu horchen und kommt her, aber dalli!”
Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich und die beiden traten ein. Beide sahen nicht minder ernst drein. Ri sah die beiden vielsagend an. Shui wich Ris Blick aus.
„Interessante Sache”, sagte Ri. „Findet ihr nicht auch?”
„Was ist hier eigentlich los?!”, rief Yu, der sich einfach nicht mehr halten konnte. „Warum zum Teufel hat Shiro gerade vor meinen Augen einen Dämon alle gemacht? Und warum tut ihr hier alle so geheimnisvoll?”
Shui sah Xie an. Xie nickte.
„Wisst ihr”, sagte Shui leise, ”Shiro ist nicht ganz normal.”
Shui brach ab. Ris Blick schien ihn förmlich zu durchbohren. Shui brachte es einfach nicht über die Lippen.
„Shiro ist eine Dämon”, sagte Xie direkt.
Keiner sagte ein Wort.
„Das ist doch wohl nicht euer Ernst?”, sagte Yu mit zittriger Stimme. „Das kann nicht sein.”
„Es ist so. Du hast es doch selbst gesehen.”
„Ich bin mir nicht sicher, was ich gesehen hab”
„Du glaubst doch wohl nicht, dass ein Normalsterblicher in der Lage wäre einen Dämon von dieser Grösse so zuzurichten?”
„Das kann nicht sein. Shiro... ist... kein... Dämon!”
„Yu, ich bin Halbdämon. Ich hab ein Gespür für so was. Du kannst mir glauben.”
„Was ist eigentlich los?”, fragte Shiro verwirrt.
Xie setzte sich neben Shiro aufs Sofa und begann nach einer kurzen Pause, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Als Xie geendet hatte, trat ein längeres Schweigen ein. Alle Augen waren auf Shiro gerichtet.
„Das ist doch ein Scherz”, sagte Yu und in seiner Stimme lag etwas flehentliches. „Shiro kann kein Dämon sein!”
„Ich glaube euch”, sagte Shiro leise. Yu sah sie entsetzt an.
„Sh-shiro?”
„Wie kommt's, dass du uns so leicht Glauben schenkst?”, fragte Ri.
Shiro schob den ärmel ihres Pullovers hoch. Die Augen aller Beteiligten weiteten sich. über Shiros Arme zogen sich dunkle Streifen. Es sah aus, wie die Fellzeichnung eines Tigers.
„Diese komischen Striemen habe ich auch an den Beinen. Sie sind vor ein paar Tagen aufgetaucht. Ich weiss nicht wo sie herkommen. Wenn eure Geschichte stimmt, wäre das wenigstens eine Erklärung hierfür”
Ri zog Shiros Arm zu sich ran und sah sich die Streifen genau an.
„Interessant”, murmelte er, „so eine Fellzeichnung habe ich ja noch nie gesehen. Sehr ungewöhnlich, sogar für einen Dämon.”
„ähm...Ri”, sagte Shui vorsichtig. „Was hat das denn zu bedeuten?”
Ri sah Shui überrascht an. Sein Blick schien sagen zu wollen, weißt du das etwa nicht?
„Komisch”, sagte Xie nachdenklich. „Ich habe noch gar nie einen Dämon mit derartigen Zeichnungen gesehen.”
„Wovon redet ihr?”, fragte Yu ungeduldig.
„Ach ja, nichts spezielles”, sagte Xie. „Einige Dämonen haben Zeichen auf ihren Körpern. So was ähnliches wie ein Muttermal.”
Yu sah Xie irritiert an. Er hatte keine Ahnung wovon Xie sprach.
„Alles klar, jetzt weiss ich bescheid”, sagte Ri plötzlich.
„Was denn?”, fragte Yu und wurde langsam laut.
„Shiro ist ein Beast”, sagte Ri und schien sich über diese Neuigkeit auch noch zu freuen.
„Wie redest du denn von Shiro?!”, schrie Yu aufgebracht.
„Du verstehst mich falsch Yu”, sagte Ri beschwichtigend. „Weißt du, ich hab dir doch erzählt, dass es verschiedene Dämonenrassen gibt. Es gibt aber zwei Oberrassen. Die Royals und die Beasts. Während die Royals die Elemente kontrollieren, sind die Beastdämonen mit den Tieren verbündet.”
„Und was heisst das jetzt?”, fragte Yu unsicher.
„Shiro hat offensichtlich Tigergehne.”
„Echt jetzt?”, fragte Shiro ungläubig.
„Ja”, sagte Ri und lächelte dabei. „Wenn ich mich nicht total irren sollte, solltest du sogar in der Lage sein mit Tieren zu kommunizieren und sie, wenn nötig, zu kontrollieren.”
„Cool!”
Yu schien am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Die ganzen Neuigkeiten musste er erst einmal verdauen. Shui schien auch angestrengt nachzudenken.
„Sag mal”, sagte er schliesslich zu Xie gewandt, „kannst du eigentlich auch Tiere beherrschen?”
„Nein”, antwortete Xie gleichgültig.
„Warum eigentlich nicht?”
„Weil ich kein Beast bin, sondern ein Royal, Dumpfbacke.”
„Schade eigentlich.”
„Für mich stimmt's so.”
„Wieso?”
„Muss man dir alles Brockenweise eintrichtern?! Royals sind stärker als Beasts. Beasts beherrschen keine Magie. Sie haben nur ihre animalischen Kräfte. Gut, sie sind übermenschlich stark, aber gegen einen Gegner der Magie beherrscht sind ihre Chancen gleich null.”
Shui war regelrecht geplättet.
„Wie kommt's denn dann, dass Shiro diesen Dämon so zurichten konnte?”, fragte Yu.
„Das liegt doch auf der Hand”, sagte Xie. „Der Dämon war ebenfalls ein Beast. Shiro hat einfach nur ihre animalischen Instinkte genutzt. Sie war ihm an Kraft und Geschwindigkeit einfach überlegen.”
„Aber wie kann das gehen?”, fragte Ri nachdenklich.
Ri schwieg eine Weile und machte dann ein ganz ernstes Gesicht.
„Shiro”, sagte Ri plötzlich, „hast du dich jemals zuvor in einen Dämon verwandelt?”
„Weiss nicht”, antwortete Shiro.
„Lass es mich anders formulieren. Seit wann hast du diese Zeichnungen auf deinem Körper?”
„Hm...so seit einer Woche ungefähr, glaube ich. Da fällt mir etwas ein.”
„Was denn?”
„Seit diese Zeichnungen aufgetaucht sind, habe ich immer wieder Blackouts gehabt. Ich erinnere mich noch an's erste mal. Es war schon spät und ich war auf dem Heimweg von der Schule. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich lief schneller. Ich spürte, wie Angst in mir hoch kroch. Plötzlich wurde mir schwindlig und dann, erinnere ich mich an nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zuhause in meinem Bett. Und dann habe ich die Streifen bemerkt. Zuerst hatte ich sie nur auf den Schultern aber nach und nach erschienen sie auch an den Armen, Beinen und sogar auf der Brust.”
Shiro seufzte leise. Ri macht ein ernstes Gesicht.
„Ist das danach noch einmal passiert?”, fragte Ri besorgt.
„Ja, ein paar Mal. Ich weiss auch nicht was genau passiert ist.”
„Was denkst du, Ri?”, fragte Shui.
„Erinnert ihr euch noch an die Zeitungsmeldung von heute Morgen?”
„Die mit den übergriffen?”
„Genau die.”
„Worum geht's eigentlich?”, fragte Yu verwirrt.
„Es gab in den letzten Tagen mehrere übergriffe”, erklärte Ri. „Die Medien und die Polizei vermuten, es handelt sich um eine Bande Jugendlicher. Tatsache ist aber, dass es keine Jugendlichen waren, sondern Dämonen.”
„Dämonen?!”, rief Yu entsetzt.
„Ja, die Sache ist leider völlig unkontrollierbar”, sagte Xie. „Sämtliche Guardians in diesem Gebiet sind seit einigen Tagen in extremer Alarmbereitschaft. Das merkwürdige ist nur, dass sich der Dämon nur auf ein Gebiet zu konzentrieren scheint.”
„Wie bitte?”, sagte Shui plötzlich. „Der Dämon ist immer in der selben Umgebung tätig?”
„Ja, ich hab mir die ganzen übergriffsorte mal auf dem Stadtplan angeschaut.”
Xie schnippte mit den Fingern und auf dem Couchtisch rollte sich ein grosser Stadtplan aus. Auf dem Plan waren mehrere Punkte mit roter Farbe markiert.
„Seht ihr?”, sagte Xie und deutete auf die Karte. „Die Vorfälle fanden alle in der selben Umgebung statt.”
Neugierig beugten sie sich über den Stadtplan.
„Sekunde!”, rief Shiro plötzlich. „Ich war da. Ich war an all diesen Orten. Und auch zu der Zeit, als dort die überfälle statt fanden.”
„Also doch, ich hab's geahnt”, murmelte Ri.
„Soll das heissen, der Typ, der für die überfälle verantwortlich ist, ist hinter Shiro her?”, sagte Shui schockiert.
„Nein”, antwortete Ri. „Shiro ist für die überfälle verantwortlich.”
Allen Beteiligten hatte es die Sprache verschlagen. Alle starrten sie Ri fassungslos an. Sogar Xie war völlig baff.
„Dann hat Shiro diese Menschen angegriffen?”, fragte Xie, die sich gleich wieder gefasst hatte.
„Ich fürchte, ja”, sagte Ri leise.
Ein leises Japsen zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Shiro presste die Hände auf den Mund und hielt mit Mühe ihre Tränen zurück.
„Heisst das, dass ich diese Menschen angegriffen habe?”, fragte sie leise. „Heisst das, dass ich diese Menschen verletzt habe, dass ich diese Zerstörung angerichtet habe?”
Ri nickte nur still. Er sah Shiro nicht in die Augen. Shiro begann zu schluchzen. Den Gedanken, dass sie das alles zu verantworten hatte, konnte sie nicht ertragen. Kopflos rannte sie los, aus dem Haus in die Nacht hinaus.
„Shiro!”, schrie Yu und wollte hinter ihr her rennen.
„Bleib da!”, reif Shui und hielt ihn zurück.
„Lass mich los, ich muss ihr nach!”
„Bleib hier”, sagte Ri in ruhigem Ton. „Ich gehe ihr nach.”
„Warte Ri!”, rief Xie. „Ich komme mit.”
Ri nickte nur. Ri und Xie traten ins Freie und mit einem Schlag ihrer Flügel waren sie im Nachthimmel verschwunden.

Ri und Xie hatten in Windeseile die ganze Stadt abgesucht. Aber von Shiro keine Spur. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
„Sag mal Ri”, sagte Xie, als sie sich entschlossen hatten, wieder zurück zu fliegen, „glaubst du, dass jemand hinter Shiro her sein könnte?”
„Ganz bestimmt”, antwortete Ri ernst. „An den übergriffsorten hat man doch Dämonen gefunden.”
„Hast du schon was gehört, hat man schon was aus ihnen rausgekriegt?”
„Nein, noch nicht. Die schweigen beharrlich.”
„Die sollten mich mal ran lassen. Wenn ich mit denen fertig bin, würden die euch anflehen euch was sagen zu dürfen!”
„Du weiss genau, warum du bei den Verhören nicht dabei sein darfst.”
„Die vom Rat sind aber echt nachtragend. Bloss weil ich einen mal ein bisschen zu hart ran genommen hab.”
„Zu hart rangenommen?! Xie, du hast ihm beide Arme gebrochen und den Unterkiefer, der konnte ja gar nicht mehr reden selbst wenn er gewollt hätte.”
„Mensch, ich hab mich ja entschuldigt. Aber weißt du was mich wundert? Dass diese Dämonen offenbar gezielt auf Shiro los sind. Was könnten die von einem Halbdämon wollen?”
„Shiro hat etwas, was sie dringend haben wollen.”
„Und was soll das sein?”
Ri schwieg. Er schien ernsthaft über etwas nachzudenken und Xie wollte nicht weiter nachhacken.
Als sie zusammen im Garten ihres Hauses landeten, kam ihnen Shui schon bedrohlich schwankend entgegen.
„Shui, was ist passiert?”, fragte Ri entsetzt.
„Wer zum Teufel hat Yu eigentlich den Schlaffluch beigebracht?”, fragte Shui träge.
„Schlaffluch? Woher kann er den denn?”
„Hätte nicht gedacht, dass Yu den so schnell beherrscht”, sagte Xie nachdenklich.
„Du hast ihm den Schlaffluch beigebracht?”, fragte Ri mit drohender Stimme.
„Ja, ich dachte das könnte nicht schaden.”
Ri war drauf und dran Xie seine Hände um den Hals zu legen und sie zu erwürgen, als Shui ihn plötzlich am Arm packte.
„Yu, ist abgehauen”, sagte Shui schwach. „Er wollte Shiro suchen, ich wollte ihn aufhalten, er hat mich überrumpelt. Tut mir leid.”
„Ist schon gut”, sagte Ri. „Wir holen ihn schon zurück. Das wär ja noch schöner.”
„Da ist noch was.”
„Was denn?”
„Er hat Fireblade mitgenommen.”
Ri wich mit einem Schlag die Farbe aus dem Gesicht.
„Xie!”, rief er und sprang mit einem Flügelschlag in die Luft. „Komm mit, schnell!!”
Xie fragte gar nicht erst. Sie legte ihre Hand griffbereit an den Griff ihres Schwertes und folgte Ri.
„Xie, kannst du Shiro aufspüren?”
„Ja”, antwortete Xie und blieb einen Moment in der Luft schweben. „Osten!”
Beide drehten ab und flogen in östliche Richtung. Xie fragte sich, wen sie zuerst aufspüren würden, Shiro oder Yu? Auf jeden Fall mussten sie einen von ihnen finden, bevor sie sich gegenseitig über den Weg laufen.
Plötzlich bemerkte Xie aus dem Augenwinkel Flügelschlagen. Ein Vogel? Xie blieb stehen und wandte den Kopf in die Richtung.
„Xie was ist?”, rief Ri aus einiger Entfernung. „Wir müssen uns beeilen!”
„Da hinten ist was!”, rief Xie zurück. „Vielleicht ist es Yu!”
Xie stürzte davon. Dicht gefolgt von Ri. In der Dunkelheit sah sie, wie ein weisser Flügel sich schwer schlagend durch die Nacht schleppte.
„Yu!”, rief Xie.
Yu stoppte und suchte nach der Person die ihn gerufen hatte. Als Xie näher kam, erschrak sie zunächst. Yu sah fürchterlich aus. über Flügel und Schultern zogen sich tiefe Kratzer und sein Gesicht war blutverschmiert. In der Hand trug er Fireblade. Die Klinge des Schwertes glühte schwach. Yu verlor den Halt und stürzte. Xie fing ihn jedoch gleich auf und legte sich seinen Arm um die Schultern.
„Warte, ich bringe dich auf den Boden”, sagte Xie und liess sich langsam sinken.
„Nein! Nicht runter!”, rief Yu panisch. „Das ist zu gefährlich, sie kann nicht fliegen!”
„Wer kann nicht fliegen?”, fragte Xie als sie Yu auf den Boden setzte.
„Was ist passier?”, rief Ri der Xie eingeholt hatte.
„Sie ist plötzlich durchgedreht”, sagte Yu mit zitternder Stimme.
„Wer?”, fragte Ri eindringlich. „Wer hat dich angegriffen, Yu?”
„Shiro?” Yu traten Tränen in die Augen, als er ihren Namen aussprach.
Ri sah Xie ernst an. Xie erwiderte seinen Blick mit dem selben ernsten Gesichtsausdruck.
„Wie konnte das passieren?”, fragte Yu und zog Ri am ärmel. „Wieso hat sie das getan?”
„Das war nicht wirklich Shiro”, sagte Ri. „Shiro kann ihre dämonische Seite nicht kontrollieren. Sie verliert den Verstand, wenn sie zum Dämon wird. Fireblade ist ein magisches Schwert. Es zwingt Dämonen ihre wahre Gestalt zu zeigen. Das hat es auch mit Shiro gemacht.”
„Interessant”, sagte eine laute Stimme.
Es raschelte in den Büschen und eine Dunkle Gestalt trat ins Licht einer Strassenlaterne. Vor den dreien stand Shiro. Ihre Augen leuchteten hell. Ihre Reisszähne und Klauen Blitzten im Mondlicht wie kalter Stahl. Die Tigerfellzeichnungen zeigten sich nun auch auf ihren Wangen und auf der Stirn. Durch die zerrissenen Kleider konnte man die Zeichnungen auf ihren Armen, Beinen und Rücken sehen.
„So, so”, sagte sie mit einem Grinsen. „Das Schwert ist also für meine Verwandlung verantwortlich? Wenn das so ist, bedanke ich mich dass du es mitgebracht hast.”
Yu zitterte. Er schien sich vor Shiro zu fürchten.
„Shiro”, sagte Ri langsam. „Das bist nicht du. Kämpfe gegen den Dämon!”
„Wieso sollte ich? Mir gefällt's so.” Shiro grinste grimmig
„Shiro, du bist kein Dämon, du bist ein Mensch.”
„Ja, ein Mensch. Ein widerlicher, feiger, schwacher, kleiner Mensch. Du willst wohl, dass ich meine dämonische Hälfte unterdrücke? Dass ich sie tief in meinem Innersten vergrabe und versiegle?”
„Shiro, denk doch an deine Familie, deine Freunde.”
„Meine Familie? Meine Freunde?” Bei diesen Worten warf Shiro einen verächtlichen Blick auf Yu.
Shiro ging in die Knie und stellte ihre Hand auf den Boden. Sie sah auf wie eine Katze, die auf ihre Beute lauerte.
„Heute Nacht, werde ich ganz zum Dämon”, sagte Shiro leise. „Dann könnt ihr eure klein Shiro für immer vergessen!”
Shiro hechtete nach vorne. Ri packte sein Schwert, das neben Yu am Boden lag und stellte sich vor ihn. Das Schwert flammte auf. Ri hob das Schwert über den Kopf und stiess es mit aller Kraft wieder nach unten. Shiro wehrte die brennende Klinge mit den Händen ab.
„Dachtest du im ernst, du könntest mich mit dem kleinen Küchenmesser da aufhalten?”, sagte Shiro. „Das hat Yu auch schon versucht und du siehst ja, was es ihm genützt hat.”
Ri war nicht mehr zu halten. Die Wut hatte ihn gepackt. Wie wild schlug er mit dem Schwert auf Shiro ein. Ohne Erfolg. Das Mädchen wehrte jeden Schlag mit blossen Händen ab.
Shiro hielt die Klinge fest, damit Ri sie nicht zurückziehen konnte.
„Bin ich jetzt dran?”, sagte Shiro mit einem hämischen Grinsen.
Shiro holte mit der rechten Hand aus und schlug Ri ihre klauenartigen Nägel ins Gesicht. Von der Attacke überrascht, stürzte Ri nach hinten zu Boden. Ri griff sich an die Wange. Seine Finger waren blutig. Tiefe Kratzer zogen sich über seine Wange.
„Ups, hab ich dein hübsches Gesicht verletzt? Dafür würde mich meine Schwester umbringen. Sie mag deine Augen.”
Ri rappelte sich wieder hoch. Er tastete nach seinem Schwert ohne die Augen von Shiro abzuwenden. Noch bevor Ri seine Finger um den Griff seines Schwertes schliessen konnte, trat Shiro ihm von der Seite in die Rippen. Shiro liess Ri keine Zeit sich wieder zu sammeln und rammte ihm die Faust in den Magen. Ri japste. Shiro beugte sich zu Ri hinunter und legte ihre Klauen an seinen Hals. Sie grinste und es war klar was sie vor hatte.
Xie ging dazwischen und stiess Shiro von Ri weg. Sie zog einen kleine Dolch aus ihrem Gürtel.
„Was willst du mit dem Ding?”, fragte Shiro blaffend. „Nicht mal mit euren Schwerter könnt ihr mir was anhaben. Meinst du dieser Dolch könnte mich dann verletzen?”
„Nein”, sagte Xie mit gefährlich blitzenden Augen. „Der ist nicht für dich.”
Xie hob ihre rechte Hand und schnitt sich mit dem Dolch den Daumen auf. Shiro sah Sie komisch an. Xie schnellte nach vorne und presste Shiro ihren Daumen auf die Stirn.
„Blutsiegel, banne die Dunkelheit!”, schrie Xie.
Der blutige Fingerabdruck auf Shiros Stirn begann zu glühen. Shiro begann zu schreien und fiel auf den Rücken. Sie presste die Hände auf die Stirn und wälzte sich hin und her.
„Schnell!”, reif Xie. „Es wirkt nicht lange aber es reicht um uns vorerst aus dem Staub zu machen!”
Ri packte Yus Hand und zog ihn hinter sich her. Xie lief hinter ihnen um ihnen den Rücken freizuhalten. Yu war völlig durch den Wind. Er bekam kaum noch etwas mit. Shiros blutrote Augen hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt.
Ri schlang seine Hand fest um Yus Handgelenk. In der freien Hand hielt er sein Schwert. Seine Rippen schmerzten. Ri keuchte schwer.
Schliesslich stoppten sie. Xie horchte angestrengt in die Dunkelheit. Doch ausser Ris Keuchen und Yus leisem Schluchzen, war nichts zu hören.
Plötzlich bekam Xie einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf und ging gleich zu Boden. Ri stand innert einer Sekunde mit seinem Schwert in Angriffsposition. Im Licht der Strassenlaterne konnte er Shiro sehen, die mit einem grossen Stein in der Hand über der am Boden liegenden Xie stand.
„Einer ausgeschaltet, bleiben noch zwei”, sagte Shiro mit kalter Stimme.
„An mir kommt du nicht vorbei, Dämon”, keuchte Ri.
Shiro sagte kein Wort. Ri schlug mit seinem Schwert nach Shiro. Diese Sprang über Ri hinweg und trat ihm mit ihrem Fuss gegen den Hinterkopf.
„Das war der letzte”, sagte Shiro und sah zu dem am Boden liegenden Ri. „Jetzt sind nur noch wir beide übrig.”
Mit diesen Worten wandte sich Shiro Yu zu der zitternd am Boden sass und Shiro entgeistert anstarrte.
„Was denn?”, sagte Shiro grinsend. „Ich bin's doch, deine Shiro.”
Shiro ging in die Hocke und stützte sich auf die Hände. Wie eine Katze bewegte sie sich auf Yu zu, bis ihr Gesicht ganz nah an seinem war. Yu war starr vor Schreck. Shiro leckte ihm das Blut von der Wange.
„Heute Nacht werde ich zu einem richtigen Dämon”, sagte Shiro leise uns setzte ihre Zähne an Yus Hals. Yu liefen Tränen übers Gesicht. Er spürte ihren Atem in seinem Genick. Er war ausser Stande sich zu wehren.
Auf einmal, ging ein Zittern durch Shiros Körper und sie hielt inne. Was tue ich da? Dachte Shiro. Yu ist doch mein Freund. Denk nicht nach. Sagte eine zweite Stimme in Shiros Innerem. Tu es einfach!...Wer ist das? Was ist das für eine Stimme?...Ich bin du!...Nein, das kann nicht sein!...Doch, ich bin der Dämon, der in dir wohnt....Was willst du von mir?...töte ihn!...Nein, das tu ich nicht!...Tu es! Nur so kannst du zu einem richtigen Dämon werden!...Nein, Ich will kein Dämon werden!
Shiro schrie auf. Yu schrak zusammen. Shiro hatte sich von ihm losgerissen und warf nun schreiend den Kopf herum als wenn sie von Sinnen wär.
„Schnapp sie dir!”, rief Xie auf einmal.
Wie aus heiterem Himmel griffen auf einmal zwei paar Hände nach Shiro. Sie verdrehten ihr die Arme auf den Rücken und drückten sie zu Boden. Shiros Körper zuckte heftig. Sie strampelte mit den Beinen. Nach einer Minute jedoch, erschlaffte ihr Körper. Ri und Xie sahen sich an. Ri drehte Shiro um und hob ihren Oberkörper an. Shiro röchelte leise. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Ri und Xie an.
„Oh nein”, wimmert Shiro. „Was habe ich getan? Was habe ich getan?!”
„Es ist schon gut, Shiro”, sagte Ri mit sanfter Stimme.
Shiro richtete sich auf. Ihr Blick fiel auf Yu, der sie immer noch völlig entgeistert ansah. Shiro liefen Tränen über die Wangen. Ihre Lippen zitterten. Mit einem mal stand sie auf.
„Es tut mir leid”, japste sie mit Tränen erstickter Stimme und rannte davon.
„Shiro!”, rief Yu und wollte ihr nach aber Ri hielt ihn zurück.
„Nein”, sagte Ri ohne ihm in die Augen zu sehen, „lauf ihr nicht nach.”
Yu sah nur noch, wie Shiro im Schatten einer grossen Mauer verschwand.

Ri hatte auf dem ganzen Weg nach hause kein Wort gesprochen. Gedankenverloren zog er Yu hinter sich her. Xie folgte den beiden mit einigem Abstand.
„Du Ri”, sagte Xie plötzlich als sie vor ihrem Haus standen. „Bist du sauer auf Shiro?”
„Nein”, antwortete er knapp. „Wie kommst du darauf?”
„Na ja, immerhin wollte sie doch Yu töten.”
„Shiro hat mich aber gerettet!”, rief Yu auf einmal aus.
Ri blieb wie angewurzelt stehen. Seine Hand krampfte sich fest um die von Yu.
„Hör mir gut zu, Yu”, sagte Ri mit bemüht ruhiger Stimme. „Du wirst Shiro niemals wieder sehen. Ist das klar? Wenn du ihr begegnest, gehst du an ihr vorbei und redest nicht mit ihr. Verstanden?”
„Nein!”, rief Yu entsetzt. „Shiro hat nichts getan! Sie hat mir doch geholfen! Sie ist nicht böse!”
„Das weiss ich doch aber wir dürfen das Risiko nicht eingehen.”
Yu sagte gar nichts mehr. Wortlos riss er sich von Ri los und rannte ins Haus. Kurz darauf hörte man, wie eine Tür zugeknallt wurde.
„Warum bist du so gemein. Ri?”, fragte Xie.
„Ich bin doch nicht gemein. Ich sorge mich doch nur um meinen kleinen Bruder.”
„Aber das ist nicht richtig so!”
„Hey, im Gegensatz zu dir versuche ich meine Familie zu beschützen!”
Xie hatte keine Lust sich mit Ri zu streiten, darum redete sie auch nicht weiter.
„Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwas vergessen habe”, sagte Xie ganz in Gedanken.
Xie trat ins Wohnzimmer und stolperte über etwas am Boden liegendes. Shui lag auf dem Rücken und sägte was das Zeug hielt.
„Stimmt ja”, sagte Ri, „den haben wir ja ganz vergessen. Na, dann weck ihn mal auf.”
„Was?! Wieso ich?!”
„Du hast Yu den Fluch beigebracht, also musst du auch dafür grade stehen.”
„Können wir nicht warten bis er von alleine aufwacht?”
Ri schüttelte nur den Kopf und sah Xie ernst an.
„Aber die einzige Möglichkeit ihn zu wecken ist...”
„...ist ihn zu küssen”, ergänzte Ri.
Xie murrte leise und kniete sich widerwillig über Shui. Sie stemmte ihr Arme links und rechts neben Shuis Kopf und beugte sich zu ihm hinunter. Langsam berührten Xies Lippen die von Shui. Schnell richtete sie sich wieder auf. Shui bewegte sich nicht.
„Was ist los?”, sagte Xie leise. „Er müsste jetzt doch wach sein. Soll ich es noch mal versuchen?”
Xie beugte sich noch mal zu Shui hinunter. Mit einem mal schlangen sich zwei Arme um Xies Körper.
„Reingelegt!”, rief Shui und drückte sie an sich.
„Du mieser Hund!”, schrie Xie und schlug Shui k.o.
Xie rieb sich die Fingerknöchel und funkelte Shui wütend an.
Ri drehte sich schweigend um und verliess den Raum.
„Was ist denn mit dem los?”, fragte Shui verwundert.
Wie seufzte und setzte sich neben Shui auf den Boden. Sie begann Shui die ganze Geschichte bis ins letzte Detail zu erzählen. Shui hörte schweigend zu ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. Als sie geendet hatte, streckte sich Shui wieder auf dem Boden aus und sah zur Decke. Eine Weile lang sagte er kein Wort. Xie fand, dass er in diesem Moment ungewöhnlich ernst wirkte. Seine Augen waren klar und hellwach. Obwohl sein Körper entspannt und ruhig auf dem Boden lag, war die Anspannung deutlich zu spüren, mit der er sich auf nur einen Gedanken konsentrierte. Mit einem Mal richtete sich Shui wieder auf und sah Xie unverwandt an.
„Wir müssen etwas tun”, sagte Shui ernst.
„Und was bitte?”, fragte Xie.
„Du musst Shiro helfen”
„Ich? Shiro helfen?”
„Zeig ihr wie sie sich unter Kontrolle halten kann”
Xie sah Shui schräg von der Seite an und lachte plötzlich los. Shui jedoch verzog keine Miene.
„Das ist dir wohl ernst”, sagte Xie mit gespielter überraschung. „Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?”
„Trainier sie”, sagte Shui. „Zeig ihr wie sie ihre Kräfte nutzen kann. Aber am wichtigsten ist, sie muss sich unter Kontrolle halten können.”
Xie dachte einen Moment nach und sagte dann: „Ausgeschlossen.”
„WAS?!”, rief Shui und knallte mit dem Kopf auf den Boden. „Warum ausgeschlossen?!”
„Ich hab einfach keine Lust.” Shui japste.
„Du machst es nur nicht weil du keine Lust hast?”
„Und weil's zu anstrengend ist.”
Shui liess den Kopf hängen. Er war es ja gewöhnt, dass Xie ihren eigenen Kopf hatte und immer das Gegenteil von dem machte, was man von ihr erwartete. Darum hatte Shui bei ihr immer mit allem gerechnet. Aber das hätte er jetzt doch nicht erwartet. Da kam Shui plötzlich eine gute Idee.
„Xie- Schätzchen”, säuselte Shui. „Was hälst du von einem Deal?”
„Wie soll der aussehen?”, fragte Xie und wirkte ein bisschen neugierig.
„Wenn du Shiro unter deine Fittiche nimmst, höre ich auf , ich liebe dich, zu dir zu sagen.”
„Das wär eigentlich unnötig, ich mach's.”

Shiro war am Boden zerstört. Entgeistert starrte sie auf ihre Hände. Beinahe hätte sie Yu getötet. Was war das für eine Stimme gewesen, die aus ihrem Innern zu ihr gesprochen hatte? Diese Stimme, die sie angefeuert hatte Yu zu töten. War das ihre dämonische Hälfte gewesen? Nur mit Mühe konnte sie es wieder unter Kontrolle bringen. Würde sie es beim nächsten mal auch schaffen?
Shiro begann leise zu schluchzen. Es gab für sie nur eine Möglichkeit, einen solchen Zwischenfall auszuschliessen. Sie durfte Yu nie wieder sehen. Shiro barg das Gesicht in die Hände und weinte hemmungslos.
„Hör sofort auf zu flennen!”, rief eine barsche Stimme.
Shiro hob den Kopf aus den Händen und sah direkt in Xies kalte Augen.
„Ein Dämon weint niemals!”, sagte Xie und machte ein ernstes Gesicht. Shiro schluckte.
„Ich will aber kein Dämon sein”, sagte Shiro leise.
„Machst du Witze?”, saget Xie. „Stell dir das doch mal vor. Als Dämon hast du deine eigenen Kräfte, deine eigene Magie und denk erst mal an die Magie, die du noch erlernen kannst. Shiro, das bedeutet eine menge Macht für dich.”
„Ich will aber keine Macht!”, rief Shiro. „Ich will keine Macht, wenn ich dafür zu einem derartigen Monster werden muss!”
Xie beugte sich zu Shiro hinunter bis ihr Gesicht ganz nah an dem von Shiro war und flüsterte leise: „Komm mit mir mit. Ich zeige dir, wie du dein ganzes Potenzial nutzen kannst, ohne dass dein dämonisches Blut die Oberhand gewinnt.”
„Ich kann meine Kräfte gebrauchen ohne zum Dämon zu werden?”, fragte Shiro leise. Xie nickte.
„Aber es bedeutet harte Arbeit für dich. Bist du bereit für dein Leben und deine Freiheit zu Kämpfen? Bist du bereit, durch die Hölle zu gehen um das zurückzufordern, was der Dämon im Begriff ist dir zu nehmen?”
Stille trat ein. Eine Weile lang war nichts zu hören, ausser dem Wind, der um die Häuser pfiff.
„Ich bin bereit!”, sagte Shiro entschlossen. „Was muss ich tun?”
„Komm einfach mit mir mit. Und ab jetzt bin ich dein Sensei.”
Xie grinste und lief davon. Shiro stand auf und folgte ihr. Beide verschwanden in der Dunkelheit und das war das letzte mal für lange Zeit, dass jemand die beiden gesehen hatte.

Yu hatte sich tagelang geweigert sein Zimmer zu verlassen. Ri hatte seine liebe Mühe gehabt, bis er ihn dazu gebracht hatte wenigstens wieder in die Schule zu gehen. Shui unterstützte Ri so gut er konnte. Am Nachmittag kam Yu ganz aufgeregt von der Schule zurück.
„Shiro ist verschwunden!”, rief Yu aufgeregt.
„Was ist los?”, fragte Ri der vor Schreck fast das Küchenmesser hätte fallen lassen.
„Shiro ist seit dem Vorfall von vor drei Tagen spurlos verschwunden!”, wiederholte Yu und die Panik war aus seiner Stimme rauszuhören.
„Verschwunden? Wie kann das sein?”
„Ist ihr vielleicht was passiert? Hat sie am Ende vielleicht ein Dämon geschnappt?”
„Ich weiss es nicht.”
Ri schien ebenfalls beunruhigt. Er hatte für Shiros Verschwinden keine Erklärung.
Shui hatte aus dem Wohnzimmer zugehört. Er schlug die Hände vor die Stirn und fragte sich, was Xie wohl gemacht hatte.
Keiner ahnte auch nur im entferntesten, was sich in einiger Entfernung von ihnen im Hochgebirge Japans abspielte.
Shiro trug einen grossen Baumstumpf auf ihren Schultern und lief stolpernd und schlurfend einen steinigen Hang hinauf. Es war erst der dritte Tag in den Bergen und schon jetzt war ihr Körper mit blauen Flecken, Schrammen und Blutergüssen übersät.
Xie hatte sie noch am selben Abend in die Berge, nicht weit von Tokyo gebracht. Sie meinte, hier könnten sie ungestört trainieren ohne jemanden zu gefährden.
Seit dem kraxelte Shiro die Hänge und Felswände rauf und runter. Schleppte Baumstämme und Felsbrocken von einem Ort zum anderen und machte Dauerlauftraining durch die Wälder.
Shiro keuchte. Auf einmal rutschte sie auf dem kiesigen Trampelpfad aus. Sie konnte sich nicht abfangen und fiel hin. Shiro schlug sich Hände und Knie auf. Wie betäubt blieb sie liegen.
„Steh auf!”, blaffte Xie, die lockeren Fusses vor Shiro den Hang hinauf ging.
„Ich kann nicht mehr”, stöhnte Shiro.
„Ich kann nicht gibt's nicht!”, rief Xie.
„Seit drei Tagen mache ich nichts anderes als Bäume durch die Gegend zu schleppen und die Berge rauf und runter zu marschieren. Wie zum Teufel soll mir das helfen?!”
„Du bist schwach. Du kannst deinen inneren Dämon nicht bezwingen, wenn du nicht mal deinen eigenen Körper unter Kontrolle hast.” Xie seufzte. „Na gut, machen wir für heute Schluss. Aber morgen holst du den Trainingsrückstand wieder auf.”
Xie schritt zügig wieder den Hang hinunter. Mühsam rappelte Shiro sich wieder hoch und lief Xie nach. Ihr Lager hatten sie an einer nahen Waldlichtung aufgeschlagen. Shiro hatte das Zelt ganz alleine aufgestellt während Xie auf einem Baum gesessen hatte und ihr dabei zugesehen hatte.
„Da bist du ja endlich”, sagte Xie die gerade unter einem Baum im Schatten sass. „Geh runter zum Fluss und hol Wasser. Anschliessend sammelst du Holz und machst Feuer. Dann machst du das Abendessen.”
„Und was machst du so lange?”, fragte Shiro bemüht höflich.
„Mich ausruhen ich bin müde.”
„Du bist müde?! Und was ist mit mir?!”
Xie zeigte lediglich zum Fluss und bedeutete Shiro damit, mit der auferlegten Arbeit anzufangen. Shiro murrte, holte die beiden Wasserkanister aus dem Zelt und lief runter zum Fluss. Unten angekommen tauchte sie erst mal ihre wunden Hände ins kalte Wasser.
Shiro seufzte. Natürlich wollte sie lernen, wie sie ihre dämonische Seite unter Kontrolle halten konnte aber seit sie hier war, scheuchte Xie sie lediglich in der Gegend rum. Am liebsten wäre sie wieder nach hause und hätte Xie hier in der Wildnis allein sitzen lassen. Es gab nur ein Problem, Shiro hatte keine Ahnung, wo sie war. Es half alles nichts. Wenn sie jemals wieder zurück wollte, musste sie sich Xie beugen. Shiro füllte die Kanister mit Wasser und trug diese wieder das kleine Wiesenbord zum Zelt hoch. Xie döste bereits. Dachte Shiro. Mit leisen Schritten entfernte sie sich wieder in den Wald um nach Brennholz zu suchen. In der letzten Zeit hatten in den Bergen viel Stürme gewütet. Nun lag mehr als genug Brennholz auf dem Waldboden. Schon nach kurzem kehrte sie zurück mit dem Arm voller Holz, dass wohl für die ganze Nacht reichen würde. Shiro schichtete das Holz auf der Feuerstelle und ging dann zu ihrem Rucksack um nach dem Feuerzeug zu suchen. Aber es war nicht auffindbar.
„Wo ist denn mein Feuerzeug?”, flüsterte Shiro leise.
„Suchst du das hier?”, fragte Xie und zeigte das Feuerzeug, das sie in der Hand hielt.
Shiro wollte danach greifen, doch Xie zog die Hand wieder zurück.
„Gib es her Xie”, sagte Shiro. „Wie soll ich ohne denn Feuer machen?”
„Du bist ein Dämon. Also hast du auch Gewalt über die Elemente. Ich will, dass du ohne Hilfsmittel ein Feuer entfachst.”
Xie setzte sich wieder unter den Baum und schloss die Augen. Tatsächlich beobachtete sie Shiro unbemerkt. Shiro sass vor dem Holzstapel und sah sich ratlos um. Wie um alles in der Welt sollte sie ein Feuer machen ohne Feuerzeug oder Streichhölzer? Shiro nahm sich ein Holzscheit und starrte es gelangweilt an. Brenne, dachte Shiro. Nichts tat sich. Shiro hörte Xie hinter sich leise grummeln.
„Nicht zu fassen!”, sagte sie plötzlich laut, dass Shiro kurz zusammenzuckte. „Ich fass es nicht! Worauf habe ich mich da nur eingelassen?! Du willst also ein Dämon sein?! Du kannst noch nicht mal Feuer beschwören!”
Xie lief vor Shiros Augen auf und ab. Immer wieder fluchte sie vor sich hin und benutzte Fluchwörter, die Shiro nur schwer überhören konnte. Shiros Aufmerksamkeit konzentrierte sich immer mehr auf Xie. Jedes Wort schien sich Shiro einzeln in den Kopf zu Hämmern. Shiro spürte die kalte Wut, die sich langsam wie ein Gift in ihrem Körper ausbreitete. Shiros Körper begann zu zittern. Am liebsten währe sie Xie an den Hals gesprungen.
Shiro Gefühle standen kurz vor der Explosion. Sie stellte sich bereits aus die Zehen. Sprungbereit um Xie anzugreifen. Nein, dachte Shiro krampfhaft. Ich muss mich zusammenreissen. Ich bin stärker als der Dämon.
Es schien, als wenn Shiros ganze Kraft auf einmal aus ihrem Körper weichen wollte. Hitze schwoll in ihrem Körper an und klang gleich wieder ab. Nur ihre rechte Hand blieb heiss. Shiro hob ihre Hand vor die Augen und bekam zuerst einen Schreck. Ihre Hand war von Flammen eingehüllt. Ehrfürchtig betrachtete sie die roten Flammen, die geschmeidig wie ein Handschuh um ihre Hand züngelten.
Xie grinste in sich hinein. Sie war mit Shiro und vor allem mit sich selbst zufrieden.

Trotz dieses enormen Erfolges wurde das Training kein bisschen leichter. Im Gegenteil. Xie lief jetzt erst langsam warm. Shiro musste beispielsweise halbnackt im eiskalten Fluss schwimmen. Und wenn sie sich am Ufer festhielt um einen Moment lang zu verschnaufen, trat Xie ihr auf die Hände und meinte, dass sie in einem Kampf auch keine Verschnaufpause einlegen könnte. Shiro fluchte innerlich über Xie. Jedoch unterlag sie der Illusion, dass Xie sie nicht hören konnte. Xie kannte nämlich jeden von Shiros Gedanken.
Die Tage vergingen und Shiro machte keine wirklichen Fortschritte. Xie wurde das Ganze langsam zu bunt. Tag für Tag überlegte sie sich neue Sachen um Shiros Kräfte endlich zu wecken. Aber was sie auch tat, nichts half. Shiro schien sich in ihrem Innern immer noch dagegen zu sperren. Es musste sein, dachte Xie. Noch länger könnten sie nicht warten. Entweder so, oder gar nicht. Xie dachte einen Moment nach und beschloss dann, alles auf eine Karte zu setzen.
Xie sprang von dem Baum runter, auf dem sie eben noch gesessen hatte und ging zu Shiro, die in ihrem Zelt sass. Shiro sah auf als Xie näher kam.
„Morgen”, sagte Xie kühl.
„Was ist morgen?”, fragte Shiro verwirrt.
„Morgen wirst du eine letzte Chance haben.”
„Letzte Chance?”
„Ich werde dir eine Aufgabe stellen. Wenn du sie bestehst, dann bist du schon fast am Ziel.”
„Und wenn nicht?”
„Dann brechen wir die ganze Sache ab.”
Shiro war geschockt. Xie wollte die Sache abbrechen, wenn sie versagte. Shiro sass nun allein in ihrem Zelt. Xie hatte ihr die Anweisung gegeben, sie solle am Mittag aufbrechen und auf die Spitze des Berges steigen. Bis Mitternacht sollte sie oben sein. Xie würde sie dort oben erwarten.
Shiro konnte die ganze Nacht lang nicht schlafen. Der Aufstieg würde nur ein paar Stunden dauern und sie hatte zwölf Stunden zur Verfügung. Aber dennoch, erst musste sie einen Weg hinauf finden.
Nervös sass Shiro am andern Tag vor ihrem Zelt und wartete darauf, dass der Zeiger ihrer Uhr auf Zwölf sprang. Xie hatte ihr eingeschärft, dass sie auf keinen Fall früher losgehen durfte.
Endlich lagen Minuten- und Stundenzeiger übereinander af der Ziffer Zwölf. Shiro schloss ihre Windjacke und lief los in Richtung Berge.
Nach etwa anderthalb Stunden war Shiro am Fuss des Bestimmten Berges angekommen. Shiro atmete noch einmal tief durch und machte sich dann auf den Weg den Berg hinauf. Shiro war noch keine Viertelstunde unterwegs als es auch schon zu Regnen begann. Shiro beachtete das aber nicht weiter und stieg unbeirrt weiter den immer mehr ansteigenden Weg hinauf.
Nach fünf Stunden schweisstreibender Wanderung hatte Shiro das Ende des Wanderweges erreicht. Vor ihr türmte sich nun eine steile Felswand auf. Die Spitze des Berges verschwand im grauen Dunst der Regenwolken. Shiro schauderte. Sie zog den Reissverschluss ihrer Jacke höher und trat an die Felswand. Vorsichtig legte sie die Hände an den Stein und suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Ein schmaler Pfad, nicht breiter als ein Fenstersims, führte den Berg hinauf. Vorsichtig trat Shiro auf den schmal Rand. Shiro wagte es gar nicht erst zurückzusehen. Wenn sie jetzt auch nur einen Fehler machte und abrutschte, war alles vorbei.
Der Wind pfiff um ihre Ohren. Er trug die Kälte des Schnees aus dem Hochgebirge mit sich. Shiros Hände waren von der Kälte und den Steinen aufgerissen und bluteten. Immer weiter tastete sie sich am schmalen Sims entlang. So kletterte Shiro fast eine Stunde lang an der Felswand entlang. Mit dieser Taktik kam sie jedoch kaum bergauf. Shiro fror. Der kalte Wind blies ihr unter die Jacke.
Plötzlich passierte es. Shiro trat auf eine instabile Stelle am Sims. Ihr Fuss rutschte ab. Verzweifelt versuchte Shiro sich mit den Händen am Stein festzukrallen. Aber ihre Hände waren von der Kälte so klamm, dass sie diese nicht mehr bewegen konnte.
Der dunkle Abgrund riss seinen unheimlichen Rachen auf und verschluckte Shiro, die unaufhaltsam in die Ungewissheit stürzte.

Xie sass derweil auf dem Gipfel des Berges und schlief. Ein kalter Windstoss weckte sie aus ihrem Schlaf. Xie sah sich um. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr und murrte leise: „Die lässt sich ja ganz schön Zeit! Bloss weil sie bis Mitternacht Zeit hat, muss sie noch lange nicht so trödeln! Oder hat ihr mein Sturm am Ende doch zu hart zugesetzt? ... Ach, nee!”
Mit diesen Worten setzt sie sich wieder hin und schlief weiter.
Shiros Kopf schmerzte grauenhaft. Nach dem Sturz musste sie ein Weile bewusstlos gewesen sein. Sie griff sich an die Stirn, ihre Finger waren blutig. ächzend richtete sich Shiro auf und lehnte sich schwer atmend gegen die Felswand. Langsam hob sie die linke Hand vor die Augen um aufs Zifferblatt ihrer Uhr zu sehen. Shiro bekam einen gewaltigen Schreck der sie ihre Schmerzen sofort vergessen liess. Es war schon halb zwölf. Sie hatte nur noch eine halbe Stunde um bis nach oben zu gelangen.
Shiro wusste nicht, was sie tun sollte. Den Berg konnte sie unmöglich bezwingen, schon gar nicht in einer halben Stunde. Aber wenn sie es nicht schaffte, würde Xie das Training mit ihr abbrechen und sie wieder nach Hause schicken. Dann würde Shiro für immer in Angst vor ihrem Dämon leben. Shiro sank weinend zu Boden. Sie war vollkommen verzweifelt und dachte schon gar nicht mehr daran überhaupt noch etwas zu tun. Sie hatte sich selbst aufgegeben.
Das leise Poltern eines herabfallenden Steines riss Shiro aus ihrer Ohnmacht. Als sie aufblickte, sah sie vor sich einen riesigen schwarzen Wolf. Der Wolf stand still und starr vor Shiro auf einem kleinen Felsvorsprung. Shiro sah dem Tier direkt in die Augen. Sie hatten die Farbe von Bernsteinen. Faszinierend und wunderschön blickten sie in Shiros Innerstes und Shiro bemerkte, dass sie gar keine Angst hatte.
In Shiro regte sich etwas. Etwas, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Ein Gefühl, weit jenseits von Angst und Kummer. Warm und stark wogte es in ihrer Brust. Der Wolf drehte seinen Kopf und sah an der steilen Wand empor. Shiro folgte seinem Blick. Ein jäher Blitzschlag zuckte über den Nachthimmel und lies die Wolken in einem gespenstischen Licht flackern.
Shiro stand auf und warf ihre zerfetzte Windjacke weg. Mit langsamen aber festen Schritten trat sie an den Felsen. Langsam ging sie in die Knie und schnellte wie eine Sprungfeder wieder empor. Drei Meter sprang sie in die Luft und schlug ihre zerschundenen Finger in den Felsen als wäre es nur Schnee.
Shiro kletterte auf diese Art die fast senkrecht aufsteigend Felswand hoch. Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht aber das schien sie nicht mehr zu spüren. Sie bemerkte noch nicht mal das Blut, dass in dünnen Rinnsalen über ihre Hände floss.
Nach einer Ewigkeit, wie es Shiro schien, griff ihre Hand plötzlich ins Leere. Sie hatte den Gipfel endlich erreicht. Mit letzter Kraft zog sie sich über den Rand hoch und liess sich auf den Boden fallen.
Keuchend richtete sich Shiro auf. Sie stand ganz oben auf dem Gipfel. Die Wolkendecke, die das Land vom Himmel trennte lag unter ihr. Der strahlend helle Vollmond schien mit seinem silbernen Licht auf sie herab.
Shiro warf den Kopf in den Nacken. Ihr tiefes Heulen drang wie das Lied eines Wolfes zum stillen Mond empor. Das Echo hallte weit bis ins Tal hinunter. Und in der ganzen Umgebung stimmten die Wölfe in den Gesang mit ein.
Hinter Shiro trat Xie aus ihrem Versteck. „Na, endlich!” Murrte sie. „Du hast dir ganz schön Zeit gelassen Mädel!”
Shiro sagte nichts, sie lächelte nur dankbar in Xies Richtung. Dann drehte sie sich wieder um und betrachtete den Vollmond, der ihr noch nie im Leben so schön vorgekommen war.
Mit einem plötzlichen Ruck wurden Shiros schulterlangen Haare gepackt und abgetrennt. Erschrocken drehte sie sich um und starrte gebannt auf Xie, die ein Messer in der einen und Shiros Resthaar in der anderen Hand hielt.
„Spinnst du?!”, wetterte Shiro. „Was soll das?!”
„Lange Haare sind beim kämpfen im Weg”, sagte Xie amüsiert. „Kein anständiger Krieger hat lange Haare.”
„Aber du hast auch lange Haare!”
„Ich bin ja auch dein Lehrer.”

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© 2005 - Shuichi Shindou / Sabrina Winterberg - Schweiz / Suisse / Svizzera / Svizra / Switzerland.
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